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Laurindo Lietha · 10. Jul 2023 · Literatur

Anselm Jappe: „BETON – Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus“

In seinem just erschienen Buch „BETON – Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus“ untersucht der deutsche Philosoph Anselm Jappe den Baustoff Stahlbeton. Für ihn ist dieser die in Form gegossene Daseinsform aller Übel des Kapitalismus.

Am Tag vor Ferragosto liegt in ganz Italien eine Spannung in der Luft: Endlich Ferien, endlich raus aus den Städten, welche die angesammelte Hitze des Sommers in ihren Bauteilen gespeichert haben und nicht mehr abkühlen wollen. So auch im Jahr 2018 in Genua, wo die Autobahn A7 von Mailand in die A10 in Richtung Ventimiglia und Nizza mündet. Es geht gegen Mittag zu, es regnet und der Verkehr ist dicht. 25 Millionen Autos pro Jahr kurven die Auffahrt der Autobahnbrücke hoch. Wohnbauten, Rangiergleise und das Restwasser des Polcevera befinden sich unter der in die Jahre gekommene Schrägseilbrücke. Der westlichste der drei 90 Meter hohen Pylonen und die an diesem befestigten Einhängeträger versagen. 250 Meter Fahrbahn stürzen 42 Meter in die Tiefe. Dutzende Autos und Lastwagen ebenso. 43 Menschen verlieren ihr Leben.
Fortan kennt die ganze Welt die „Morandi-Brücke“. Bilder der klaffenden Lücke stehen in den Zeitungen neben vielerlei Schuldzuweisungen an Politik, private Betreiber und Riccardo Morandi, dem bereits knapp 30 Jahre zuvor verstorbene Ingenieur des Bauwerks. Zweifel an der Statik des fragilen Konstrukts der Gesellschaft kommen auf. Anselm Jappe nimmt diese Katastrophe als Ausgangspunkt seiner Untersuchungen über den Baustoff Beton. In der Einleitung fragt er: „Und wenn die in ihrem Wesen eingeschriebene Zerrüttung, ihre Schwäche, ihr Zerfall nicht nur das sichtbare Merkmal dieser Bauwerke sind, sondern auch eine Folge des Zerfalls und der Auflösung der Gesellschaft, die diese hervorgebracht hat?“

Weltende und Schuhe aus Beton

Poetisch liegt es nahe, dieser These der Gleichzeitig- und Abhängigkeit zu folgen und van Hoddis „Weltende“ eine dritte Strophe anzudichten. Auch da folgen auf „In allen Lüften hallt es wie Geschrei. | Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei“ ohne Zweifel „Die Eisenbahnen fallen von den Brücken“. Jappe aber gibt sich damit nicht zufrieden. Über mehrere akribisch recherchierte und anekdotenreich erzählte Kapitel umkreist er die Entwicklungs- und Anwendungsgeschichte, sowie die technischen Merkmale des Stahlbetons. Sowohl im Faschismus, im Stalinismus wie auch in den kapitalistischen Demokratien findet er Vordenker, die er in einen kritischen Diskurs mitnimmt.
Weiter trägt er die Auswirkungen der Beton- und Zementindustrie zusammen. Dass das, abgesehen von Wasser, am meisten gebrauchte Material der Welt verheerende Nebeneffekte – von illegalem Sandabbau in unvorstellbaren Massen, über Korruption, einem gigantischen CO2-Austoss bis hin zu seiner praktischen Un-Wiederverwendbarkeit – hat, ist bekannt, doch für Jappe noch nicht schlimm genug: „und es ist vielleicht nicht die Schuld des Betons, aber dennoch bemerkenswert, dass die Mafia so gerne ihre Leichen im Beton von Fundamenten verschwinden lässt.“

Alles wegen der Architekten?

Die Moderne Le Corbusiers, Mies van der Rohes oder von Adolf Loos, die darauffolgenden Schaffen von Jean Nouvel, Frank Gehry oder Zaha Hadid sind für Jappe nicht nur ein Graus. In jeglicher Form eines „internationalen Stils“ sieht er einen Mord an den traditionellen Architekturen. Und damit hat er mindestens teilweise recht. Wer heute in Lima, Kairo oder Mumbai durch die wuchernden Agglomerationen irrt, findet weder Lehm noch Kalk noch Bambus. Er findet Betonsteine, Plastik und Wellblech. Wer sich in den Geschäftsvierteln von Cleveland, Belgrad oder Hanoi befindet, wird anhand des um ihn Gebauten schwer ausfindig machen können, in welcher der Städte er sich befindet. Den architekturtheoretischen Begriff des „Spiritus Loci“ – dem Geist eines Ortes – dehnt er hingegen etwas weit in den Bereich des Esoterischen:  „Wenn wir unsere Ohren an die Steine alter Gebäude halten, können wir, wenn wir es nur wollen, das Murmeln der Generationen hören, die hier gewohnt haben.“
Er kritisiert den orthogonalen Städtebau ebenso wie das Stararchitektentum und den Verlust des Handwerks. Dabei stehen ihm grandiose Denker wie William Morris, Hassan Fathy (den er fälschlicherweise Hassan Rafthy schreibt) oder Bernard Rudofsky zur Seite. Letzteren zitiert er: „Innerhalb seiner Grenzen findet der Maurer unendliche Möglichkeiten zwischen Vielfältigkeit und Harmonie; der moderne Architekt hingegen, mit all dem, was ihm an Material und baulichen Systemen zur Verfügung steht, erzeugt Eintönigkeit und Dissonanz, und das im Überfluss.“
Nicht nur hätte man gerne die Kontaktdaten des genannten Maurers, auch ist dies völlig romantisierter Unsinn – gleich der Schuldsuche der baulichen Misere der Gegenwart im Handwerk der Architekten. Nicht, dass diese unschuldig daran wären, doch der Logik nach wäre es dasselbe, den Köchen das Fastfood und dem Schneider die Fast Fashion in die Schuhe zu schieben.

Zustände und Hoffnung

Umständlich, mit einem Vokabular, welches den geneigten Leser zum halbseitigen Nachschlagen von Begriffen zwingt, und Feuerwerken aus Konzepten und Marx-Zitaten führt Jappe zu seiner Aggregatszustandstheorie: „Der Beton ist die vollkommene Materialisierung der Wertlogik. Er ist seine Hypostase, seine Leibhaftigkeit. Er verkörpert par excellence die konkrete Seite der Warenabstraktion. […] Er ist Stoff ohne ihm eigene Begrenzung, amorph, polymorph, der welche Form auch immer ausfüllen kann. Er löst alle Unterschiede auf und ist immer ungefähr dasselbe. […] Er hat keine eigene Form, aber er kann alle annehmen. Er existiert in keinem Naturzustand, aber er ist allgegenwärtig.“
Beton ist also, um das herunterzubrechen, ein Wundermaterial, dass so ziemlich alles kann. Der Kapitalismus – um frei Jappe zu folgen – verlangt mit seiner Gier nach stetigem Wachstum die steigernden Massen seines Einsatzes, was wie bei jeder Form von Masse – sei es Tourismus oder Tierhaltung – zu Problemen führt. Problemen, welchen unsere heutigen Gesellschaften mit technischen Lösungen, demokratischen Prozessen und Regulierung begegnen können. Diese Optionen nennt Jappe nicht. Er schließt im Epilog entgegen der vernichtenden Analyse nicht mit Forderungen nach dem Hängen der Architekten, dem Verbot von Beton oder dem Überwinden des Kapitalismus. Beinahe versöhnlich hofft er fatalistisch auf die Rückkehr eines Primitivismus: „Die Erschöpfung der Ressourcen, welche wir heute erleben, könnte alte Verfahren und Prozeduren auf verschiedensten Gebieten wieder zu Ehren verhelfen, auch auf dem des Bauens – Verfahren, die in Epochen zurückreichen, in denen die Menschen notwendigerweise gelernt hatten, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln sparsam umzugehen.“

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Juli/Augut 2023 erschienen.

Anselm Jappe: Beton – Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus. mandelbaum verlag, Wien / Berlin, 2023, 160 Seiten, engl. Broschur, ISBN: 978399136-003-2, € 20