Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Peter Niedermair · 24. Apr 2015 · Aktuell

Tage der Utopie 2015: Stephan Rammler - Schubumkehr – Reiseberichte zur Zukunft der Mobilität, im Gespräch mit Renata Schmidtkunz

Über das Pendeln, Reisen, Spazieren – im digitalen Schwarm, per Fahrrad, Luftschiff und was noch …? haben am dritten Abend der Tage der Utopie zwei Kapazunder miteinander geredet. Ihnen zuzuhören bereitete höchste Lust und intellektuelles Vergnügen; einmal weil die beiden dieses Begehren am Sprechen persönlich repräsentieren, zum andern weil ihr sprühender Dialog eigentlich ein Grundlagengespräch über mentale Mobilität ist, eine Demonstration, wie die Form des Sprechens über das Thema ein Sprechen für das Thema ist und die Gäste des Abends hineingezogen hat. „At the edge of the chair“, sagen wir im Englischen, wenn man im Kino an der Vorderkante des Stuhls sitzt, weil einen das Geschehen nach vorne zieht. Stephan Rammler würde das zu den Pull-Faktoren der Mobilität zählen. Zunächst kurz etwas über die Protagonisten des Abends.

Stephan Rammler

ist ein kluger Erzähler und ein profunder Experte im komplexen Themenbereich der Mobilität. Im kurzweiligen Gespräch mit Renata Schmidtkunz spürt man deutlich seine Neugier und Lust am Gespräch mit den Zuhörerinnen und Zuhörern. Er studierte Politikwissenschaften und Ökonomie, promovierte am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Seit 2002 ist er Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, seit  2007 Gründungsdirektor des Instituts für Transportation Design (www.transportation-design.org). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Mobilitäts- und Zukunftsforschung, Verkehrs-, Energie- und Innovationspolitik sowie Fragen zukunftsfähiger Umwelt- und Gesellschaftspolitik.

Renata Schmidtkunz

ist eine der profiliertesten Journalistinnen in Österreich und so etwas wie das humanistisch-intellektuelle Gewissen des Landes, eine historisch und politologisch weitblickende Stimme. Sie ist auch evangelische Theologin. Seit 1990 arbeitet sie als Redakteurin, Filmemacherin und Moderatorin beim ORF in Wien, leitet seit 1999 die Ö1-Sendung „Im Gespräch“, moderiert seit 2003 die Wissenschaftssendung „Radiokolleg“ auf Ö1. Sie hat eine Reihe wunderbarer Filmportraits und Dokumentationen gemacht, u.a. über Ruth Klüger, Teddy Kollek, Amos Oz, Tel Aviv, Michael Köhlmeier ... Beim Burgtheater-Projekt „Die letzten Zeugen“ (2013/2014) von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann war sie als Moderatorin dabei.

Mobilität als Ware

Mobilität sei eine Ware geworden, die immer stärker konsumiert werde, die zu kompletter Orientierung, zu neuen Veränderungen führe; Bewegung und Mobilität seien zur Marke geworden, man müsse mobil sein. Es gelte als Qualitätsmerkmal, je mobiler man sei, es sei somit kein Dequalitätsmerkmal. Dies u.a. und mehr erzählte mir Reinhard Gassner, Gestalter und Kommunikationsberater aus Schlins/Vorarlberg, 2002 in einem Gespräch, das Hermann Brändle von Saegenvier und ich in einem Buch für das 10-Jahre-Jubiläum des Vorarlberger Verkehrsverbundes machten. Mobilität ist von fundamentaler Bedeutung für unsere arbeitsteilige Wirtschaft wie für unseren privaten Lebensstil. Sie ist sehr ressourcenintensiv und stellt höchste Herausforderungen an die ständige Gegenwart und Zukunft. Denn angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung und knapper Rohstoffe ist klar: Wir brauchen eine drastische Richtungsänderung, eine Schubumkehr. Stephan Rammler, der renommierte Mobilitäts- und Zukunftsforscher entwickelt Visionen mit verblüffenden Technologien, klugen ökonomischen Strategien und einer veränderten politischen Kultur. Eine lebendige Reise durch Geschichten über die Welt von morgen. Sein Buch, in dem ich gestern Nacht noch geschmökert habe, Stephan Rammler: Schubumkehr. Die Zukunft der Mobilität. Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2014, ist ein El D’Orado für Mobilitätsaficionados.

Segel klar

Mit der Frage, ob man Zukunft erforschen könne, setzt Renata Schmidtkunz die Segel für den Törn des Abends. Stephan Rammler sieht sich als Zukunftsanalytiker einer Zukunft, die man maximal in Szenarien entwickeln kann, die auf soziologischen, ökonomischen und gesellschaftlich-politischen Daten  basieren. In puncto urbane Mobilität spielen gewisse Trends eine Rolle, Wissenstransfer entlang des gesellschaftlichen Wandels ist wichtig, es geht darum, Alternativen zu entwickeln, eine Mischung aus verschiedenen Trends und allen möglichen anderen Faktoren in eine Synopse zu nehmen. Am „Institute for Transportation Design“, das er begründete, hat er aus dem Feld der Sozialisation und der Ökonomie den Begriff der „Pfadabhängigkeit“ entwickelt. Pfade, das sind Wege, auf denen man immer wieder geht, die dadurch immer sichtbarer werden und somit eine Infrastruktur schaffen, die uns als moderne Kultur in eine Abhängigkeit bringen. Das Eigenheim und die Automobilkultur gehören eng zusammen, sie prägen in ihrer Dualität unser Mobilverhalten und schaffen die Pfadabhängigkeit.

Schubumkehr

heißt sein Buch als Ergebnis aus 12 Jahren Forschungs- und Entwicklungsarbeit; Schubumkehr bezeichnet zunächst einmal das Umwenden gegen die Bewegungsrichtung. Und das braucht bekanntlich Zeit. Doch die großen Tanker sind schnell und langsam zugleich. Man denke an das Bild der Titanic. Ein Schiff hat ein großes Momentum und die Richtungsänderung ist sehr bedeutend, Schub herausnehmen, beschleunigen und bremsen, Bewegung und Ruhe, Schub nehmen, um langsamer zu werden. An dieser Stelle öffnet Renata Schmidtkunz ihm sein Zitat von Blaise Pascal, dieses berühmte Zitat, wie schwierig es für den Menschen sei, das Alleinsein in einem Zimmer zu ertragen; weil es also Teil der conditio humana ist, weil wir Menschen sind, haben wir ein Begehren nach Mobilität und suchen und brauchen dafür einen Garanten für Freiheit und Entwicklung, für Selbstbestimmtheit. Mobilität meint heute primär auch die Erreichbarkeit von Einrichtungen. Die „Zuhandenheit des Automobils“ auf dem Reißbrett der Raumsiedlungsstrukturen schafft ein „dispers“ angelegtes Szenario. Die Folgerungen und Ableitung liegen klar zutage: wir müssen Städte anders bauen, dichter bauen, wir müssen Urbanität anders definieren.

Mobil sein mit weniger Verkehr

ist die fundmentale Erkenntnis, eine Neuorientierung mit Landkarten, wie früher, weil das GPS nur eine scheinbare Orientierungshilfe bedeutet und Menschen immer abhängiger werden von den digitalen Instrumenten und damit jegliche Orientierung verlieren, so wie diejenigen, die als Realität nur mehr das wahrnehmen und anerkennen können, was sie auf Google finden. Die andere Welt gibt es de facto nicht. In Sachen Orientierung und sich orientieren können geht es auch um die Geschichte der Navigation, aus deren Momentum heraus wir heute noch an der Grundfrage festhalten: ich muss immer wissen, wo ich bin und wohin ich will. Als digital lost hat man sich jedoch fahrtabhängig gemacht, so wie wir uns als Kultur von der Digitalisierung völlig abhängig gemacht haben.

Narrative einer anderen Zukunft

Rammler erfindet in seinem Buch eine Kunstfigur, eine künstlich angelegte Person, Peter Fischer. Ihn lässt er, transponiert in eine Zukunft in 2044/45, verschiedene Reisen in allerlei möglichen Variationen von Mobilität unternehmen. Den Leser nimmt der Autor, wie auf eine Lustreise mit. Das erinnert an Reiseromane wie Jules Vernes „In achtzig Tagen um die Welt“, an Jonathan Swifts „Gulliver’s Travels“ oder „Heart of Darkness“ von Joseph Conrad. Alle drei genannten Romane sind natürlich völlig verschieden von Rammlers visionären Reisen. Doch alle vier haben eines gemeinsam. Mit den Protagonisten gehen wir auf eine Reise zu den inneren, persönlichen Kontinenten, den eigenen Mobilitätslandkarten. Der Autor operiert mit Narrativen anstatt abstrakten Szenarien, weil die, wie man weiß, oft schwer zu begreifen sind. Die Leute interessiert vielmehr, was das alles für ihren Alltag bedeutet. Ausgehend von dem, was jetzt schon da ist, beschreibt er Narrative einer anderen Zukunft, alle Szenarien sind technologisch bereits angelegt, sie lassen sich auch aus der Geschichte herleiten und weiter entwickeln, hybrid angetriebene Luftschiffe, mit feuerfesten Gasen betrieben. Er lässt Peter Fischer, den Protagonisten, in alle Himmelsrichtungen fahren, nach Island, an den Golf von Aden, nach Nordamerika, verschiedene Episoden spielen auf Schiffen, am Suezkanal ….

Im Buch kann der geneigte Leser sich mit einem Sonnenauto nach China, dem ökologischen Buhmann, ins Land des Grünen Drachen bewegen. Man kann multimodal Urlaub machen, da, wo man ist, eutopisch so zusagen, und feststellen, dass sich bürgerlicher Widerstand in der Kultur unterhalb der Kader entwickeln wird, angetrieben vom ökologischen Problem, Feinstaub in Peking zum Beispiel. Rammler ist überzeugt, dass es sukzessive zu neuen Regulierungen kommen wird, weil die politische Nomenklatur das einsieht, auf politischen Druck hin, und es sich deshalb absehbar ändern wird. Der Grüne Drache ist das Sinnbild des Frühlings. China zielt ganz stark auf neue Technologien. Und hier? Hier in Europa braucht es zusätzlich eine Lebensstilveränderung.

Wie sieht die Zukunft aus?

Neurophysiologische Studien zeigen u.a., dass neue Informationen eher nur dann aufgenommen werden, wenn sie nicht apokalyptisch sind. D.h. wir sollten Orte einer besseren Zukunft präsentieren und nachsehen, was es denn jetzt schon gibt. Wir sollten Bilder, starke innere Bilder erzeugen, und es braucht politische Entscheidungen. All diese Veränderungspotentiale kann man nicht den Markt entscheiden lassen. Ein Transformationsprozess kann nur mit einem Primat der Politik passieren. Es braucht andere Leitbilder, es braucht Städte, die es vormachen, die es anders machen, es braucht mehr Beispiele kommunal städtischer Räume, die funktionieren, bzw. immer besser funktionieren. Wien und Vorarlberg haben es bereits vorgemacht, das 365 Euro Ganzjahresticket zum Beispiel gibt es. Und es ist ein Erfolg. Da nimmt man gerne auch in Kauf, dass es in der U3 morgens um halb neun mitunter dichtgedrängt sein kann ...

Auf der Autobahn aussteigen wollen

Ich will zum Abschluss einen Ausschnitt aus einem Buch zitieren, das mir sehr wichtig ist, ein Text, der die Mobilität auch auf einer mentalen Landkarte verortet: „Die Autobahn ist nicht in Frage gestellt. Aber sie stellt Fragen, sie ist zu gerade, um noch Raum für das Ungewisse zu lassen, um Sternschnuppen zu suchen, auch wenn man aussteigt, weil man das nicht erfahren kann. Wer Sternschnuppen sucht, der muß sie außerhalb der Geraden suchen, links oder rechts von der Autobahn, man darf da die Gerade nicht mehr wollen, welche die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten darstellt, man muß ins Ried, welches rechts und links von der Autobahn liegt und in dem schon der Nebel liegt.“ (aus: Robert Blauhut, Auf der Autobahn aussteigen wollen, in: R. B.: Sprachminiaturen über Vorarlberg, Bregenz, 1977)

Arkadien in Arbogast

Der Künstler Peter Kees besetzt einen Quadratmeter Boden, markiert diesen und erklärt ihn zu arkadischem Hoheitsgebiet. Dieses Stück Land ist nun nicht mehr national gebunden. Fremde Staatsgewalten dürfen Personen hier nicht mehr belangen. Ein Quadratmeter Arkadien ist ein Quadratmeter Freiheit, ein Quadratmeter Zufluchtsort, ein Quadratmeter Glück. Derartige Landbesetzungen erfolgten bisher auf finnischem, deutschem, polnischem und schweizerischem Staatsgebiet. Arkadien zu verorten, ist ein Akt, der Fragen nach dem Idealzustand von Gesellschaft und Individuum stellt. Im Rahmen der Tage der Utopie erfolgt eine derartige Landnahme erstmals auf österreichischem Staatsgebiet. Peter Kees arbeitet als Chronist und Vermesser gesellschaftlicher und menschlicher Phänomene. Seine Arbeit thematisiert Momente kollektiver wie subjektiver Grenzerfahrung, die er konzeptionell wie formal-ästhetisch in sein Werk einbindet. Im weitesten Sinn stellt seine Arbeit Fragen nach dem So-Sein, aber auch nach Sehnsüchten, Visionen und Idealen. Präsentationen seiner Arbeit bisher u.a. an der Havanna Biennale (Kuba), in La Capella Barcelona (Spanien), in der Neue Nationalgalerie Berlin, am Kunsthaus Bregenz. Sein installatives Arkadien in Arbogast ist ein Quadratmeter groß. Arkadien ist poetisches Traumland, ein idyllischer Ort, ein irdisches Paradies. Mit Anklängen an die Gegenwarten, die kein Honiglecken sind und uns alle mit einer großen Verantwortung konfrontieren. Gestern, donnerstagabends um 18 Uhr wurde es mit allen staatsdiplomatisch wichtigen Persönlichkeiten und zahlreich erschienenen Gästen aus dem benachbarten österreichischen Ausland offiziell in den Rang eines Territoriums erhoben. Auf dem Foto nebenan sehen Sie die ersten Besucher bei Herrn Kees. Gögl-Kittinger sei Dank! Es war wieder ein sehr gelungener Abend. Die beiden haben sich wohl an Simon and Garfunkel und deren Konzert im NYer Central Park erinnert … „We make our own fireworks.“ Boys, keep going!