Aktuell in den Filmclubs (7.7. – 13.7. 2023)
Zwei formal strenge Filme von Regisseurinnen gibt es diese Woche im Kinotheater Madlen in Heerbrugg und im Gutshof Heidensand in Lustenau zu sehen: Marie Kreutzer erzählt in "Corsage" (Lustenau) eindrücklich vom Versuch der Kaiserin Elisabeth aus den engen Rollenvorgaben auszubrechen. Alice Diop zeichnet dagegen in "Saint Omer" (Heerbrugg) konzentriert und packend einen Prozess gegen eine des Kindsmords angeklagte senegalesische Migrantin nach.
Saint Omer: Nach einem wahren Fall zeichnet Alice Diop in ihrem Spielfilmdebüt, das unter anderem in Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet und von Frankreich ins Oscar-Rennen geschickt wurde, den Prozess gegen eine aus dem Senegal stammende junge Kindsmörderin nach.
Die junge, senegalesisch stämmige Dozentin und Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) ist dabei quasi das Alter Ego der Regisseurin. Wie Diop einst in der Realität so reist Rama in der Nachinszenierung des Falls ins nordfranzösische Saint Omer, um den Prozess gegen die frühere Philosophiestudentin Laurence Coly (Guslagie Malanda) zu verfolgen.
Der Auftakt der Verhandlung stimmt dabei schon auf die spartanische Inszenierung ein. In der minutiösen Schilderung der Auswahl der Geschworenen spürt man Diops Herkunft vom Dokumentarfilm. Kaum eine Kamerabewegung gibt es, auf Filmmusik wird verzichtet, lange halbnahe Einstellungen dominieren. So sehr hier aber auch das Wort dominiert, es praktisch nichts außer den Gesichtern der Angeklagten, der wenigen Zeugen oder der Vorsitzenden zu sehen gibt, so packend und dicht ist „Saint Omer“ doch, dank der konzentrierten und präzisen Inszenierung und eines herausragenden Ensembles.
Sukzessive wird in den Verhören die Entwurzelung Laurences, die Hexerei oder einen Fluch als Grund für ihre Tat angibt, durch die Migration spürbar, die Vereinsamung in Frankreich und das langsame Zerbrechen an der hohen Erwartungshaltung, die ihre Mutter von klein auf an sie stellte. Gleichzeitig spürt man in der Präzision und Nüchternheit dieser Aussagen, dass hier wohl auch viel von Diops eigenen Fremdheitserfahrungen als Afrikanischstämmige in der weißen französischen Mehrheitsgesellschaft eingeflossen ist.
So wirft Diop auch die Frage auf, wie angesichts dieser Diskrepanzen überhaupt ein gerechtes Urteil gefällt werden kann und ob Europäer:innen Afrikaner:innen sowie Männer Frauen und im Speziellen Mütter überhaupt verstehen können. Auf Lösungen verzichtet die Französin dabei bewusst, aber gerade dadurch arbeitet dieser Film, der durch die messerscharfe Herausarbeitung brennend aktueller gesellschaftlicher Problemfelder fesselt, im Kopf der Zuschauer:innen weiter.
Kinotheater Madlen, Heerbrugg: Mo 10.7., 20.15 Uhr
Corsage: Durch die Anklage Florian Teichtmeisters – dem Darsteller von Kaiser Franz Joseph – wegen des Besitzes pornographischer Bilder und Filme von Minderjährigen ist ein Schatten auf Marie Kreutzers Film über Kaiserin Elisabeth gefallen. Blendet man diesen Hintergrund aber aus, erlebt man ein formal strenges, aber eindrückliches Drama über eine Frau, die aus ihrem engen Rollenkorsett ausbrechen will.
Intensiv kehren die weitgehend leeren Räume die Kälte, die zwischen Elisabeth und ihrem Mann Franz Joseph herrscht, nach außen. Gleichzeitig erlaubt sich Kreutzer aber auch historische Brüche, wenn man einmal einen Traktor oder moderne Brandschutzmauern im Bild sieht. Und auch die reduziert, aber markant eingesetzte Musik mit sanften Songs der französischen Sängerin Camille brechen die historische Ebene auf, schließen Vergangenheit mit Gegenwart kurz.
Dies alles ist aber mit solchem Feingefühl und solcher Sorgfalt gestaltet, dass „Corsage“ bruchlos dahinfließt. Durch Inserts gegliedert spannt sich so die Handlung von Weihnachten 1877 bis Herbst 1878. Sukzessive verabschiedet sich Elisabeth in diesem Zeitraum von ihrem bisherigen Leben, befreit sich von der strengen Diät, experimentiert mit dem neu entwickelten Heroin, reist mit ihren Zofen nach England und zu ihrem Cousin Ludwig II. von Bayern (Manuel Rubey) und schließlich nach Italien. Das vielleicht markanteste Signal für einen Bruch mit dem alten Leben ist das Abschneiden ihrer berühmten knöchellangen Haare.
Fern ist „Corsage“ von Franz Marischkas „Sissi“-Schmonzetten, die in den 1950er Jahren Romy Schneider zum Star machten. Ein leises, aber intensives Frauenporträt ist Kreutzer hier gelungen. Genau kontrolliert ist der Erzählrhythmus, großartig ist die Bildgestaltung von Kamerafrau Judith Kaufmann. Getragen wird „Corsage“ aber von einer großartigen Vicky Krieps, die nicht nur den Anstoß zu dem Film gab, sondern auch als Executive Producer fungiert. Eindrücklich vermittelt sie die Unzufriedenheit Elisabeths und deren Sehnsucht nach einem anderen Leben, legt aber auch negative Seiten an den Tag, wenn sie ihre Zofen arrogant herumkommandiert.
Hofkultur im Gutshof Heidensand, Lustenau: Di 11.7., 20 Uhr
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