Verweis auf älteste Objekte der Menschheitsgeschichte
Amrei Wittwer in der Galerie Feurle Feldkirch
Nach einer minimalistischen Ausstellung, bei der Matthias Garnitschnig ein einzelnes, steinähnliches Objekt mit biomorphen Strukturen wie Haut, Haare und Falten präsentiert hat, gibt sich die Galerie Feurle in Feldkirch derzeit überaus materialintensiv: Die in Nüziders lebende und arbeitende Malerin, Keramikerin und promovierte Pharmazeutin Amrei Wittwer hat die in die Außenwand des Cafés Feurstein integrierte Schauvitrine mit zahlreichen keramischen Objekten bestückt, mit denen sie formal auf die ältesten Objekte der Menschheitsgeschichte wie Venusfigurinen und Kulttischchen verweist.
Amrei Wittwer übertitelt ihre Ausstellung in Feldkirch mit „Paläolithischer Schrein im Anthropozän“. Damit wird bereits angedeutet, dass sich die Künstlerin auf ein altsteinzeitliches Formenvokabular beruft, das sie neu auslegt und in die Gegenwart transformiert, nämlich ins Zeitalter des „Anthropozän“. Das Anthropozän ist eine vorgeschlagene Bezeichnung für die neue Epoche, in der der Mensch die Erde zu einem dominanten Faktor für seine geo-physikalischen Prozesse gemacht hat. Der Begriff wurde vom Chemiker Paul Crutzen geprägt, um die tiefgreifenden und weitreichenden Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf den Planeten zu beschreiben. Obwohl der Begriff weit verbreitet ist und eine metaphorische Bedeutung hat, wird das Anthropozän wissenschaftlich noch nicht offiziell als geologische Epoche anerkannt.
Reduktion und rohe Ästhetik
Die in Nüziders lebende Künstlerin ist nicht die erste Kunstschaffende, die sich von urtümlichen Ausdrucksformen inspirieren lässt. Auch Picasso, Joseph Beuys oder Alberto Giacometti haben immer wieder prähistorische Elemente in ihr Schaffen einfließen lassen. Denn die paläolithische Kunst ist oft stark stilisiert und auf wesentliche Elemente reduziert. Sie ist von einer Einfachheit geprägt, die dem visuellen Überfluss der modernen Konsumgesellschaft diametral entgegenwirkt und sich auf grundlegende Formen konzentriert. Die rauen, natürlichen Materialien und die rohe Ästhetik der steinzeitlichen Objekte und Figuren offenbaren eine gestalterische Fluchtmöglichkeit vor den oft perfektionierten und technologisch produzierten Werken der Gegenwart. Sie ermöglicht Künstler:innen, die Grenzen und Möglichkeiten verschiedener Materialien neu zu erforschen und auszuloten. Paläolithische Artefakte haben auch eine zentrale kommunikative Funktion. Über Jahrtausende hinweg sind sie Träger und Mittler grundlegender Botschaften. Obwohl der genaue Sinn der prähistorischen Kunst oft unklar ist, behandeln die Motive universelle menschliche Themen wie die Beziehung zur Natur, die Jagd, Spiritualität und die menschliche Existenz an sich.
Wie Künstlerin Amrei Wittwer wissen lässt, hat sie für die Realisierung ihrer Objekte intensive Recherchen über bis zu 40.000 Jahre alte Funde angestellt und diese mit künstlerischer Intuition rekonstruiert. Bei der Umsetzung greift sie auf ursprüngliche Materialien, Formen und Techniken zurück und kombiniert sie mit Neuem. Materielle Archäologie wird gleichsam mit symbolischen, zeitgenössischer Ansichten und Einsichten aufgeladen. Im Begleittext zur Ausstellung ist zu lesen: „Wittwers Arbeiten erwecken das Gefühl des Primitiven, und davon, von der Zeit gezeichnet, ausgegraben worden zu sein. Die Symbole vermitteln den Eindruck historischer Referenz. Frau und Tier als wichtiges Thema frühzeitlicher Kunst stehen im Zentrum der Ikonographie. Sie repräsentieren das Idol des beseelten Anderen, seiner Aufrufung und Besänftigung.“
Figurinen, Kulttischchen, Hunde
Wittwer präsentiert in ihrem „Paläolithischen Schrein im Anthropozän“ zahlreiche kleine Venus-Figurinen. Die Vorbilder dazu wurden zwischen 40.000 und 14.000 Jahren vor unserer Zeit gefertigt und weisen oft übertriebene Geschlechtsmerkmale wie Brüste, Bauch und Gesäß auf. Die gängigste Interpretation besagt, dass die übertriebenen weiblichen Merkmale die Fruchtbarkeit und die Fortpflanzung symbolisieren. Einige Forscher sehen in den Figuren die Darstellung einer Muttergöttin oder einer allgemeinen weiblichen Gottheit, die mit Schöpfung, Natur und dem Wohlergehen in Verbindung gebracht wird. Die Figurinen könnten aber auch als persönliche Glücksbringer gedient haben.
Die Hunde, die um ein X-faches größer sind als die Figurinen, präsentiert Wittwer in Verbindung mit Kulttischchen. Wobei Hundedarstellungen in der Steinzeit weit über eine reine Abbildung hinausgingen und tief in den Glaubensvorstellungen, Ritualen und der sozialen Struktur der prähistorischen Gemeinschaften verankert waren. Sie reflektierten die vielseitige und enge Bindung, die sich bereits in der Steinzeit zwischen Mensch und Hund entwickelte. Wittwer stellt die Hunde auf die altarähnliche Tischchen und verschmelzt sie mit diesen. Die eigentliche Bedeutung solcher Kulttischchen wird in der Literatur noch immer diskutiert. Die Fundkontexte und Verzierungen weisen allerdings darauf hin, dass sie sowohl in rituellen als auch in alltäglichen Bereichen eine wichtige Funktion im Leben der Menschen des Neolithikums und Chalkolithikums spielten. Ihre Verbindung zu weiblichen Figuren und Tierdarstellungen deutet auf eine Beteiligung an Kulten hin, die möglicherweise mit Fruchtbarkeit, Natur und den weiblichen Lebenszyklen in Zusammenhang standen.
Durch die formale Reduziertheit, die rauhe Oberflächengestaltung sowie den feuerroten Brand der Keramik entfalten die Werke eine unerhörte Wirkung. Am liebsten würde man die Objekte in die Hand nehmen und befühlen, aber dies ist auf Grund der schützenden Glasscheibe nicht möglich. Anstelle der Einritzung von Spiralen, Dreiecken und Zickzack, wie sie für die neolitischen Funde typisch waren, hat Wittwer ihren Keramiken heute gültige, mathematische Formeln eingeschrieben. „Sie können als eine Beschreibung und Beschwörung der Natur mit den Mitteln des Antropozän verstanden werden“, so die Künstlerin. Eingeritzt und eingestempelt ist den Objekten des Schreins nämlich die Formel „E = m.c 2“ (Energie ist Masse mal Geschwindigkeit zum Quadrat).
Für die Künstlerin stellt der „Paläloitische Schrein im Antropozän“ mehr als historische Referenz dar. Es gehe auch um den Wunsch nach einer „Unio Mystica“ (mystische Vereinigung), um eine Verbindung mit allem Lebendigen. Die geformten Relikte seien nicht nur Erinnerungen an ein Damals, sondern Angebote an das Nun – als „kultisches Werkzeug für die Mitgeschöpflichkeit“, betont sie.
Zwar handelt es sich beim Begriff „Unio Mystica“ um einen spezifischen Begriff aus der späteren Religionsgeschichte und sollte nicht auf die prähistorische Kunst angewendet werden. Dennoch liefern die prähistorischen Funde und Darstellungen Hinweise auf spirituelle und mystische Erfahrungen, die die Menschen damals mit ihrer Umwelt, Tieren und dem Jenseits verbanden. Diese Erfahrungen waren tief in den Glaubensvorstellungen verankert und bildeten eine Art „proto-mystische“ Dimension im Leben der prähistorischen Gemeinschaften.
Auf alle Fälle bieten paläolithische Motive eine Möglichkeit, um eine Verbindung zu den Wurzeln des menschlichen Denkens und Kommunizierens herzustellen. Wittwer etwa nutzt die zeitlose Kraft prähistorischer Kunst, um Themen wie Identität, Körperwahrnehmung und die Beziehung des Menschen zur Natur zu erforschen und gleichzeitig aber auch um den Ursprüngen der Kunst unmittelbar nachzuspüren.
Amrei Wittwer: „Paläolithischer Schrein im Anthropozän“
bis 23.11., tgl. 24h einsehbar
Galerie beim Feurle, Feldkirch
www.galeriebeimfeurle.at