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Peter Niedermair · 28. Jun 2022 · Theater

Zeitgenössisches Theater an ungewöhnlichen Orten. Brigitte Walks „WO BIS DU. Places to share in Lustenau“

In diesem aktuellen Community Art Stück und Tanztheaterprojekt im Freien auf Straßen und Plätzen in Lustenau begibt sich das Ensemble des walktanztheaters auf die Suche nach unscheinbaren, alltäglichen Orten, die durch die Hintergrundrecherchen auf ihre Eigenheiten und auch Besonderheiten untersucht werden.

Bei einem x-beliebigen Ausflug durch die flächenmäßig ausgedehnte und mit 23.579 Einwohner:innen zum 1. Jänner 2022 die einwohnerreichste Marktgemeinde Österreichs sieht man die Entwicklungen ziemlich deutlich. Durch den ständigen Zuzug, weil Lustenau ein sehr angenehmer Ort zum Leben ist, wird spürbar, wie die vormals deutlich wahrnehmbare Zersiedelung in die Verdichtung geht. Dies fördert eine tendenziell gleichförmige Architektur, man fühlt sich ein bisschen an Pete Seegers legendären Song von den „Little Boxes“ erinnert, eine gesellschaftliche Persiflage über das Leben und Wohnen der Bewohner einer Community, in dem es u. a. heißt „Where they all are put in boxes / Little boxes all the same“.

Zwischen Performance und Radausflug

„Wo bis du“ ist ein TanzTheaterProjekt im Freien auf Straßen und Plätzen in Lustenau. Das WalkTanzTheater Ensemble geht auf die Suche nach Orten und hat zuvor ausgiebig mit den Bewohner:innen gesprochen und sie befragt, was Lustenau hier ganz besonders macht. Daraus entstanden ist ein Community Art Stück mit diversen Teilnehmer:innen und professionellen Schauspieler:innen. Ein etwas mehr als zweistündiges Stück mit Anklängen an eine zügig gespielte Performance und einen Großgruppen-Radausflug, der an diesem Abend etwas über 80 Personen durch Teile Lustenaus jongliert hat. Dabei wird an vier verschiedenen Orten – Augartenstraße 88, vormals alter Bahnhof / Bahnhofstrasse 21, Campus Rotkreuz / Mähdlestraße 22, Stadion FC Lustenau / Hannes-Grabher-Straße 2, Hasenfeld – Station gemacht. Es geht um den Rhein, das Rheinvorland, wo wir in der ersten Station der schauspielend-tanzenden Gruppe in weißen Gewändern begegnen. Sie liegen im Gras herum und geben ein gar schön idyllisches Bild. Daneben wird von gesellschaftlicher Teilhabe und verlassenen Gegenden erzählt, wie etwa beim früheren alten Bahnhof, einem Ödland, das jeglichen Charakter an einen Parkplatz verloren hat, auf dem ein paar ausrangierte Lkws herumstehen, während an der oberen Linie des Horizonts die Züge zwischen Bregenz und St. Margrethen pendeln. Das Stück ist so vielfältig, wie Lustenau eben divers und attraktiv ist. Ein wunderbarer Ort zum Leben und Wohnen, nicht nur weil es hier an Freitagen die legendären Konzerte des Jazzclubs gibt oder das DOCK20 in der Pontenstraße, ein begehrter Ort für Ausstellungen, wo man derzeit Kunst von Luka Jana Berchtold sehen kann. Das Historische, das zeitgeschichtlich Aktuelle, der heterogene und gleichzeitig fiktionale Raum wird in simultanen Zugängen erfahrbar. Doch über allem steht auch die Frage, wem dieser öffentliche Raum gehört, ob er gerecht verteilt ist und für alle zugänglich. Wie sehr beeinflussen aktuelle Ereignisse wie die Pandemie die Segregation im öffentlichen Raum, wo sind die Ränder und wie ist ihr Verhältnis zu den für Lustenau spezifischen unterschiedlichen Zentren?

Lustenau: Kontinuitäten und Wiederholungen

In der Agglomeration des Rheintals erscheint Lustenau wie eine kleine Insel. „Hier ist etwas möglich, das nicht nur der Repräsentation dient, sondern wirklich dem Einzelnen etwas zutraut“, sagt Brigitte Walk gegenüber KULTUR und „noch dazu: ich hatte noch nie das Gefühl in Lustenau, dass Kunst/Kultur irgendwie mit Bittstellerei zu tun haben. Diese Entwürdigung ist mir hier noch nie!!! begegnet.“ Und auf meine Frage, was Lustenau für ihre Theater- und Tanz-Projekte denn so attraktiv mache, antwortet Brigitte Walk: „(…) dass es hier Kontinuitäten von Menschen gibt, die sich dafür interessieren, was so ein Community Art Projekt macht und kann. Einmalige Dinge können weniger als dieses aufbauende Arbeiten, das sich in der Community informell verankert, jede Zuschauerin und jeder Mitspieler ist schon ein klein wenig Experte dessen, was da läuft. Man kennt die Codes, die Ästhetik, man ist bereit zu lesen, das erstmalige ‚Wundern‘ ist vorbei und für die Mitspielenden eröffnet sich ein Feld, das sie schon einmal gesehen haben und nun selbst erleben wollen. (…) Besonders interessant ist hier die Unterstützung aus der Gemeinde, bei der diese ganzen Bekanntheiten und Überblicke innerhalb der Familien, Verwandtschaften, Seilschaften, Vereine, Vergangenheiten usw. spürbar werden. Geld spielt auch eine Rolle, aber nicht die hauptsächliche, es ist diese Mischung aus Neugierde, Verständnis, Gelassenheit, Vertrauen in Menschen, die offensichtlich immer noch zusammenhält.“ Und schließlich, mit einem Blick in den Himmel: „Was mich auch hier bewegt, ist der freie Himmel, die Großzügigkeit, die Natur, die Radwege. All das ist gefährdet durch Bauspekulation, den Verkehr, die verdammte Ökonomisierung und den Verlust von Zusammenhalt und öffentlichem Raum.“

Amos Postners Text

Der lyrisch gewebte Text, ein changierendes Spiel zwischen dem realen Ortsbezug und dem fantasievollen Abschweifen in die Lüfte hinauf in den Himmel ist voller leiser Poesie, er legt sich wie ein Teppich über das gesamte Stück. Ich hatte wiederholt den Eindruck, dass Amos Postner, der Autor des Textes, sich diesen Text beim Aufschreiben vorgesprochen hat, voller Musikalität und Rhythmus: „Man bleibt hier nicht lange. Man hält das nicht gut aus. Man nutzt den Rad- und Wanderweg. Man geht spazieren. Man fährt Rad. Man muss etwas tun, man muss permanent etwas tun. Und wenn man nur atmet, und wenn man nur nach Luft schnappt, nach Sauerstoff. Und wenn man nur aus dem Wasser schwankt, sich hochschleppt, irgendwie, nur in Bewegung bleiben, immer in Bewegung bleiben. Dann auf dem Damm, auf der Anhöhe oben, erst da stehen bleiben, erst da nochmal zurückschauen, den Kopf in den Nacken legen. Und warten. Und wenn man Glück hat: Manchmal fliegen hier Schwäne, fliegen so hoch, dass man den Kopf in den Nacken legen muss. Steigen auf der einen Uferseite in die Höhe und kommen weit drüben auf der anderen Seite herunter, als gäbe es nichts Leichteres, als sei der Fluss gar nicht da.“ Ein wunderbarer Text, der ebenso stark unter die Haut geht.
Eine sehenswerte Inszenierung. Go and see! Ein starkes Stück von Brigitte Walk und ihrem Ensemble.

Brigitte Walk / walktanztheater: „WO BIS DU. Places to share in Lustenau“, nach einem Text von Amos Postner
weiter Vorstellungen: 28.6. (muss leider wetterbedingt abgesagt werden!), 29./30.6. und 2./3.7. jeweils 19.30 Uhr
Treffpunkt: Augartenstraße 88, Lustenau

Fahrradverleih gratis vor Ort, RADELN OHNE ALTER bietet jeden Abend vier Plätze für gehbehinderte Menschen an. Anmeldungen unter +43 650 7811700 oder eine Nachricht an organisation@walktanztheater.com

www.walktanztheater.com