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Peter Niedermair · 25. Sep 2020 · Theater

Theater Kosmos: „Live or Let Die?“ - eine Stückentwicklung

In einer Produktion des Theater Kosmos präsentieren Regisseur Simon Dworaczek und Ensemble derzeit in einer österreichischen Uraufführung mit den beiden Schauspielerinnen Magdalena Mair und Jeanne-Marie Bertram sowie dem Musiker Jörg Reissner eine, wie sie es bezeichnen, Stückentwicklung. Die Produktionsleitung hat Hubert Dragaschnig übernommen, für die Projektbetreuung ist Augustin Jagg zuständig. Die stark applaudierte Uraufführung fand am 24. September im ausverkauften Theatersaal in der Mariahilfstraße 29 in Bregenz statt.

Theater-Dream-Team

 

Die ZuschauerInnen sitzen in Schachbrettbestuhlung und schauen fasziniert 70 Minuten pausenlos auf eine Welt, die sich in einem fort rastlos auf der Bühne um sich selbst dreht, bzw. angeschoben von den beiden Schauspielerinnen und dem Musiker um die eigene Achse gedreht wird. Dort findet die Welt an sich statt, auf Rollen, die einen Schaukasten tragen, der an der Stirnseite als rechteckige, ca 2,5 x 5 m große Fläche mit neun symmetrisch angeordneten weißgestreift gerahmten Fensterläden ausgestattet und im rückwärtigen Teil mit einer zu öffnenden Platte halb überdacht ist. All das öffnet dem Publikum verschiedenste Einblicke und den Akteurinnen des Bühnengeschehens Ausblicke. Dort im Inneren, in der Höhle und teilweise auf dem Vorplatz der Welt spielt sich das Geschehen ab. Hier werden Versatzstücke und Ausschnitte aus komplexen Lebensrealitäten, Einblicke in persönlich-intime Alltagsszenen, von Haushalt über Besuch bei der Ärztin bis zu Begehren … ebenso wie in fantastische Realitäten gesteigerte, komödiantisch unterlegte Abfolgen zum ganz gewöhnlichen Weltgeschehen bzw. zum ganz normalen Wahnsinn in kurzen, übergangslosen Folgen gezeigt. Dieses seit Wochen von diesem schauspielerisch und literarisch bestens disponierten Theater-Dream-Team entwickelte Stück sehen wir als freeze eigentlich an einem Stand zum Zeitpunkt unmittelbar kurz vor der Premiere. Alle, so versichert Regisseur Simon Dworaczek gegenüber der Zeitschrift KULTUR, die beiden grandios agierenden Schauspielerinnen mit dem ebenso grandiosen Musiker, haben an der Weiterentwicklung des Stücks mitgewirkt, das dann letzten und weiteren Endes eine Collage aus Textstücken geworden ist. Eine Fülle von Verweisen auf verschiedenste AutorInnen und deren Textpassagen, die in Zitaten montiert sind. Von der literarischen Verfahrensweise her gesehen, könnte man die Struktur des Textes als eine Art Literatur in der Stream of Consciousness Technik denken und reflektieren.

„Wellness wühlt mich völlig auf“

Das Ensemble besteht aus Jeanne-Marie Bertram, Magdalena Mair, Jörg Reissner und Hanna Schmaderer, die Figuren, in die die Schauspielerinnen auf der Bühne schlüpfen, heißen Anna, Lisa, Hilde, Ruth, Susan, Jane, Doktorin, Psychologin, Hase 1 und Hase 2. Als literarische Quellen sind angeführt Goethe, Shakespeare, Brecht, Ravenhill, Sargnagel, Blom und andere, die alle nahezu bruchlos ineinander überfließen, wie in der Sprechweise des Inneren Monologs bei Schnitzler oder Joyce, bzw. wie Hannah Arendt es in ihrer Vorlesung über Sokrates beschreibt, als einen Dialog mit sich selbst. Es gibt im Text an sich keine das „under construction“ firmierende Stück erkennbar gliedernde Struktur, vielmehr hören wir eine Textebene, die parallel zu einer Musik-in-Einheiten-Ebene gestellt ist, begleitet von einem furiosen Aktionismus der beiden Schauspielerinnen. Thematisch zentral ist vielleicht doch die Perspektive, die dem Stück auch den aktuellen Namen gibt, leben oder sterben lassen, unterschiedlich in den Ausfaltungen und Ausprägungen, mal als Komödie, dann wieder als Tragödie, und man wüsste eigentlich gar nicht so genau, wo das eine beginnt und das andere aufhört. Über die Bühnenrampe kommen auf jeden Fall Fragen, die uns mehr oder weniger persönlich berühren, als eine Art Theater über einzelne Fragen der Welt, die sich laut oder weniger laut in den Vordergrund schieben, je nach dem, wie neu es wirken soll:  

„Magdalena: Wie machen wir’s, dass alles frisch und neu / Und mit Bedeutung auch gefällig sei / Denn freilich mag ich gern die Menge sehen, / Wenn sich der Strom nach unserer Bude drängt, / Jörg: O sprich mir nicht von jener bunten Menge, / Bei deren Anblick uns der Geist entflieht. / Was glänzt ist für den Augenblick geboren; / Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren.“

„Was danach kommen mag, ist völlig offen“

Welche Auswirkungen haben solche Umbrüche und was bedeuten sie für unser Leben? Und wie entwickeln wir uns mit diesen Ereignissen und Erfahrungen weiter, in einer Situation, in der Nach dem klassischen Verständnis des Dramas die Welt längst in der Krisis angekommen ist. Was aber danach kommen mag, eine Katastrophe oder der Schimmer einer Katharsis, ist völlig offen.“ (Philip Blom) In der Wiener Zeitung vom 28. Mai 2020 gibt der Historiker Philipp Blom ein Interview über seinen Essay „Das große Welttheater“, den er über eine Welt in der (Klima)Krise geschrieben hat. Durch die aktuelle Corona-Pandemie hat dieser Text eine unerwartete gedankliche Resonanz und Dringlichkeit erfahren. In diesem Welttheater, von dem Philip Blom im Interview erzählt und in seinem Essay schreibt, entwerfen Regisseur Simon Dworaczek und Ensemble ein Panorama an Bildern und angedeuteten Geschichten, die in ihrer Vielfältigkeit, im fragmentarisch Aufgerissenen und Ungeklärten, Grenzen überschreiten und Perspektiven öffnen. Jörg Reissner begleitet all diese fulminant auf der Bühne laut inszenierten musikalischen Ereignisse, Magdalena Mair und Jeanne-Marie Bertram tauchen sprachartistisch in die diversen „Figuren, Schicksale, Gedanken und Phantasiegespinste“ (Programmheft) ein, „die sich in einem multifunktionalen Bühnengebilde von Hanna Schmaderer wie der Erdball selbst, alle um die eigene Achse drehen“. Regisseur Simon Dworaczek hat die Textflächen, wie bereits kurz angeführt, in Co-Regie mit den Schauspielerinnen von Beginn an selbst entwickelt, assoziativ erfunden und „Live or let die“ als eine „Welttheater-Komposition zum Unikat gemacht, das mit einem jungen Blick die Phänomene des Menschseins untersucht“. Wer weiß, vielleicht sehen Sie bei Ihrem Besuch schon eine andere, weiterentwickelte Version. Hingehen und erleben sollte man das Stück auf jeden Fall. „Live or Let Die“ repräsentiert modellhaft auch ein grundlegend wesentliches Merkmal, für das die Kosmos Theater Leiter, Hubert Dragaschnig und Augustin, verantwortlich stehen. Auf der Suche nach jungen Theater-AutorInnen entdecken sie seit einigen Jahren wiederholt große Talente, die sie fördern und zu Kooperationen hierher nach Bregenz einladen. Das 1996 entstandene Theater Kosmos ist wesentlich mitverantwortlich für die Entwicklung der Kulturszene des Landes. Der Spirit fürs Theater an sich hat sich stark geöffnet, der Humus, wie der Aktionstheaterleiter Martin Gruber das einmal 2005 bei „In den Gärten“ bezeichnete. Wir hoffen, dass die Kulturschaffenden des Landes, die sich derzeit in gefährlichen Gewässern bewegen, von den AkteurInnen der Politik in sicherem Hafen entsprechend geankert und unterstützt werden.  

Im Foyer des Theater Kosmos zeigt Kurator Edgar Leissing unter dem Titel „Spiel auf Zeit“ Arbeiten von Severin und Pirmin Hagen.

"Live or Let Die?" v. Simon Dworaczek und Ensemble
mit Magdalena Mair, Jeanne-Marie Bertram, Jörg Reissner
Regie: Simon Dworaczek
Ausstattung: Hanna Schmaderer
Lichtdesign: Jan Wielander

Weitere Vorstellungen 25. 26. Sept. und 8. 9. 10. 15. 16. 17. Okt. 2020
jeweils 20 Uhr
70 Minuten, keine Pause
www.theaterkosmos.at