Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Peter Niedermair · 25. Jun 2018 · Theater

inte]GRAT[ion - Forumtheater des Interkulturellen Vereins MOTIF

Die neue Produktion des Theatervereins MOTIF hatte an diesem Wochenende Premiere. Weitere Aufführungen folgen. Ein Besuch lohnt sich. Das Fußballmatch kann man sich auch aufzeichnen lassen …

Der Interkulturelle Verein MOTIF hat gemeinsam mit dem Regisseur Michael Schiemer über mehrere Monate ein sehenswertes Stück zum Thema Integration erarbeitet. Im Kern dreht sich das Stück ums  Verstehen, Verständnis haben, den Verstand benutzen (nicht der vorarlbergische Hausverstand!). Diese gesellschaftspolitisch so dringliche Thematik führt zu der Frage, was Integration überhaupt ist. Der Abend ist ein flammendes Plädoyer für ein Theater, das nach neuen Wegen für ein gelingendes, gewaltfreies Zusammenleben sucht.

„Wie viele Missverständnisse hält ein Mensch überhaupt aus?“ 

In ihrem neuen Forumtheater zeigen die Leute um Yener Polat konsequent und reduziert eine Geschichte der gesellschaftlichen Praxis, wie sich Menschen im Alltag begegnen, wie sie miteinander kommunizieren, wie sie gewalttätig in ihrer Sprache ihre Emotionen ausleben, wie sie in ihrem Aufeinandertreffen, mitunter gelenkt von Vorurteilen und Unwissenheit, anderen Gewalt im handgreiflichen Sinn antun. Das ist, so die Grundhypothese der Theatermacher um Yener Polat, den seit 2005 agierenden Leiter des Interkulturellen Vereins, und den Regisseur Michael Schiemer im Wesentlichen auf Missverständnisse zurückzuführen.
Auf der Bühne begegnen wir neun Schauspieler*innen in ständig wechselnden Rollen in einer Reihe thematischer Szenen, die ein Flüchtling in seinem Leben durchläuft: Das Ensemble in großen Momenten:
Aydin Hanife, Galeli Ezgi, Aljeratli Mahmoud, Üzüm Hüseyin, Karali Irmak, Sararzai Feridullah, Sahin Dilara, Uriakhel Ehsannullah, Sahin Ilayda. Als Spielleiter, Mediator und Moderator erleben die Zuschauer*innen einen hochprofessionell, kommunikationsgeschickt und überlegt agierenden Michael Schiemer, der mit dem methodischen Repertoire von David Diamond und dessen „Theater zum Leben“, arbeitet.
Im Verlauf des ersten Durchgangs - dieser ca dreißig Minuten andauernden Spielstationen - türmt sich die Frage auf, wie viele Missverständnisse ein Mensch überhaupt aushält. Das Stück zieht die Zuschauer*innen hinein ins Geschehen. Was man sieht, lässt niemanden kalt.
In einem zweiten Durchlauf werden dieselben Szenen nochmals genau gleich gespielt. Allerdings haben die Zuschauer*innen jetzt die Möglichkeit, sich einzuschalten und über ein „Halt!“ auf die Bühne zu kommen, um eine Rolle in einer gerade laufenden Szene zu übernehmen. Von dieser Möglichkeit machten die BesucherInnen der Premiere regen Gebrauch. Dies führte zu einem außergewöhnlich spannenden Theaterabend, der am Ende mit verdientem Applaus bedacht wurde.

„Theater zum Leben“

Das in vielfacher Hinsicht ausgezeichnete "Theater zum Leben" ("Theatre for Living") des kanadischen Theatermachers David Diamond entwickelte sich aus dem "Theater der Unterdrückten", das Lateinamerikaner Augusto Boal im Brasilien der 1950er Jahre entwickelte, und erweitert es um systemtheoretische Erkenntnisse. Diamond hat sein innovatives Kon­zept für die Theaterarbeit in diversen Gemeinwesen ausprobiert und Boal nicht nur methodisch differenziert, sondern mit  anschaulichen Beispielen auch eine neue Sicht auf die Anwendung von Übungen, Spielen und Probetechniken präsentiert.
Die am Premierenabend von Michael Schiemer eingesetzte und sicher gehandhabte Methode des Forumtheaters weckt selbstverständlich auch den „Regenbogen der Wünsche“. Es dient dazu, Fragen, Schwierigkeiten und Herausforderungen in sozialen Gemeinwesen zu analysieren und zu bearbeiten. Dabei orientiert sich die Arbeit an einem lebendigen und aktiven Ausprobieren mit ästhetischen Mitteln. Das Theater bietet die Möglichkeit, die jeweilige Thematik - in diesem konkreten Fall die Integration - anschaulich werden zu lassen und nach alternativen Handlungsoptionen zu suchen. Diese Fragen sind gemeinschaftlich relevante Fragen - Frieden, Gewaltfreiheit, Ethik des Handelns, Kommunikation, Dialogfähigkeit, Toleranz, Menschenbildung, Empathie, soziale Verantwortung … . Daraus hat die Theatergruppe mit Michael Schiemer auf Basis einer systemischen Sichtweise gemeinsam neue Aspekte kollektiver Geschichten auf die Bühne gestellt, die von der Wirklichkeit erzählen und die es uns ermöglichen, die Erfahrungen aus dem Theater in den Alltag mitzunehmen. Im Unterschied zu den Lehrstücken des alten Bert Brecht braucht das Theater der Lebenden ein Publikum. Dieses Tun und Bilder-Theater im Sinne von Sachen zeigen und darüber reden, sagt Michael Schiemer gegenüber KULTUR, entwickelt eine immense Kraft, für ihn sei es eine der Formen, die das vereint, was er eigentlich mit Theater erreichen möchte, einerseits Kunst und andererseits mit dieser Kunst etwas zu bewegen.

Ein Flüchtling durchläuft Stationen seines Lebens

Zu Beginn treten zwei Sängerinnen auf die mit neun Stühlen und sechs Türen karg eingerichtete Bühne. Die erste begleitet sich selbst auf einer Saz und singt ein mehrstrophiges Lied über Sehnsucht und Liebe und gibt damit bereits einen wesentlichen Grundton menschlicher Existenz an. Jene, die aus den unterschiedlichsten Motiven migrieren, gehen immer aus Verhältnissen – nie freiwillig – weg, wo sie jemanden zurücklassen, ein Mensch, der gesehnt wird, weil zum persönlichen Glück das genuine Du gehört, um dieses Ich zu ergänzen.
Im zweiten Lied begleitet sich die zweite Sängerin auf einer Bassgitarre und erweitert konterkarierend den Grundgedanken des ersten Lieds um die „lass 1000 Rosen blühen“, weil man mit 16 noch an Wunder glaubt. Danach geht es hinein in die einzelnen Theaterstück-Stationen, eine Intervention der Grenzpolizei, eine Caritas Gruppendiskussion, Dolmetschprobleme am Passamt, Jobsuche, bei Gericht, Gewalterfahrung durch Mobbing auf der Straße, bei der Zahnärztin …
Die Sprache, so die ausgewählten und auf die Bühne gebrachten Szenen, sei das Um und Auf. Sprache an sich wird als das Dilemma schlechthin inszeniert, vor allem die Sprache im Migrationsprozess, „natürlich musst du Deutsch lernen!“ Das Primat der deutschen Sprache und die Beharrlichkeit, mit der diese hier in unserer Gesellschaft, Österreich … und Vorarlberg, ständig eingefordert wird, ist nicht nur menschenverachtend. Sie zeugt auch von beharrlichem Unverstand. Die Chancen einer mehrsprachigen Gesellschaft werden auf dem politischen Altar à la Alexander Gaulands „Vogelschiss“-Narrativ geopfert. Dieser hatte am 2. Juni 2018 gesagt, „Hitler und die Nazis“ seien „nur ein Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“.

Zahlreiche Besucher*innen intervenierten, kamen auf die Bühne und spielten mit

Durch die zahlreich beachtlich intervenierenden Zuschauer*innen wurde eine ganze Reihe von mehr als nur überlegenswerten Handlungsoptionen freigespielt. Sie machten ein gegenüber der Alltagsrealität durchaus abweichendes Verhalten sichtbar. Durchgängig gemeinsam ist ihnen, dass sie für mehr Empathie, Solidarität, Zuhören und Verstehen plädieren. Alles ganz plausibel. Ob das eine Frage des Charakters ist, wie Schiemer an zwei Stellen betonte, sei dahingestellt. Ich könnte seiner Sichtweise hier nicht zustimmen. An einem Diskursfeld könnte man jetzt gut weiter reden und nach der Rolle fragen, wie gesellschaftliche Verhältnisse, hier in Richtung Ausgrenzung und Ablehnung, das Individuelle nicht nur begleiten und steuern, sondern auch maßgeblich mitbestimmen oder neusprechdeutsch mitformatieren. Wenn ich in der gegenwärtigen europäischen Politik, nicht nur in Österreich,  die Auseinandersetzungen um einen Teil der Grundfragen dieses Kontinents (und anderer) verfolge, wird mir regelmäßig übel.
Individuen, Staatsbürger*innen, denken und handeln oft nach den dominanten politischen Paradigmen. Hätten wir Politiker*innen, die in einer anderen Weise über Menschen reden, die vor dem Tod flüchten, gäbe es, so bin ich überzeugt, auch nicht diesen in Unmengen ständig deklamierten unmenschlichen Hass. Das Credo des Hasses heißt „Grenzen dicht machen“, Sonntag, 24. Juni 2018, 19.41 in der ZIB 1, Bericht vom „Gipfel in Brüssel“. Na hör da her … In einer Ausstellung im Prager Nationalmuseum sagte Ai Weiwei kürzlich,
Es gibt keine Flüchtlingskrise, sondern nur eine menschliche Krise. Im Umgang mit Flüchtlingen haben wir unsere Grundwerte verloren.“ Allein in Syrien gibt es nach Berichten der Vereinten Nationen mehr als sechs Millionen Vertriebene innerhalb Syriens und 4,8 Millionen Flüchtlinge außerhalb Syriens. Fast 500.000 Syrer wurden bei dem Konflikt in diesem Land getötet.

Der Theaterabend überzeugt durch eine hochpolitische Theaterpraxis und Reflexion. Die Mitwirkung des Publikums und das Sichtbarmachen von Handlungsalternativen vermittelt ein im positiven Sinne nicht pädagogisch zugespitztes Lernlaboratorium. Optionen werden sichtbar und verstehbar durch jene, die bereit sind, aus dem Publikum heraus auf die Bühne zu gehen und sich gegen eine schauspielende Person in einer bestimmten Szene zu ersetzen, ein anderes Verhalten wird emotional und rational erlebbar. Das genau ist die Stärke dieses Theaterforums, dass es nicht nur Expertisen aus dem gesamten Zuschauerraum mit einbindet, auch dass nicht nur Wissen, das eh schon vorhanden ist, geteilt werden kann, sondern dass auch neues Wissen durch das Tun auf der Bühne generiert wird.

Schiemers Kunst mit den Leuten anhand ihrer Interventionen zu sprechen und zu reflektieren ist großartig. Es ist dies seine dritte Arbeit mit dieser Methode, die erste war vor Jahren zum Thema Mobbing mit dem jungen Theater Liechtenstein, die zweite zu Zivilcourage mit dem Theaterverein Motif – „Der Aufschrei“. Die Schauspieler*innen tauchen intensiv in diese Thematik ein, die Szenen, und das ist irgendwie hautnah spürbar, gehen ihnen allen sehr nahe.  Die Gruppe von Schauspieler*innen ist dadurch selbst zu einem Inkubator geworden, alle lernen voneinander, besonders auch wenn der Funke des couragierten  Publikums überspringt. - „Demokratie ist wie Kunst nicht von der Natur vorgegeben, sie sind darin verwandt, dass sie gewollte Form gesellschaftlichen Lebens sind“ (Anton Pelinka). Kulturprojekte brauchen Partner. Der Interkulturelle Verein Motif hat sie. Und das ist gut so!

 

Regie: Michael Schiemer, Bühne: Mandy Hanke, Licht: Matthias Zuggal, Sprechtechnik: Brigitte Plankel, Organisation: Lisa Weiss, Gesamtleitung: Yener Polat
Information: www.motif.at / Interkultureller Verein MOTIF, Yener Polat, Kirchstraße 16, 6900 Bregenz, E-Mail: info@motif.at

Weitere Aufführungstermine:
Mi, 27.6. + Do, 28.6. - jeweils 19.00 Uhr, Spielboden Dornbirn
Fr, 29.6., 20.00 Uhr, Remise Bludenz
Sa, 30.6., Theater am Saumarkt Feldkirch