"Un métier sérieux - Ein richtig guter Job" in der Kinothek Lustenau (Foto: Filmcoopi Zürich)
Caroline Begle · 06. Aug 2014 · Tanz

Tanz, Musik, Stimme und ein Schuss Geometrie: Um drei Ecken getanzt, Musik gemacht und nachgedacht – Die Workshopwoche poolTanz

Leises Murmeln, ein nervöses „Was kommt jetzt?“, aufgeregtes Gelächter - Und dann geht es los. Blick nach vorn, Arme hoch, in der Drehung auf den Boden – das war jetzt nicht sehr elegant, egal, weiter. Rechte Hand zieht nach links hinten, dann geht der linke Arm nach rechts und zieht den ganzen Körper mit. Die Stirn liegt auf dem Holzboden, eine große Staubflocke schwebt davon – hat niemand geputzt? Jetzt kommt der Sonnenaufgang: Becken hoch! Autsch, der Muskelkater. Ein verstohlener Blick nach rechts – die anderen sind schon weiter, jetzt aber schnell. Rollen, rollen, rollen, auf die Knie, Popo hoch oder in die Pyramide, wie Martin sagen würde. Runter, sitzen, linker Arm zieht nach rechts. Der erste Teil ist geschafft, fühlt sich gut an. Unauffälliger Blick ins Publikum: noch schauen sie interessiert. Rechter Arm nach links und jetzt wieder retour.

16 und 1

Die meisten von uns tanzen das erste Mal vor Publikum. poolTanz macht es möglich. Während der Workshopwoche Ende Juli, die bereits zum zweiten Mal vom Verein netzwerkTanz und dem poolbar-Festival veranstaltet wird, können sich 17 Tanzinteressierte jeden Alters zu Live-Musik bewegen. Das Thema ist in diesem Jahr „Musik, Tanz, Stimme und ein Schuss Geometrie“. Zwei erfahrene TänzerInnen und ChoreografInnen und ein Musiker begleiten die Gruppe. Das Pförtnerhaus in Feldkirch bietet den Raum und die Bühne für das abschließende Showing am Freitagabend.

Vier Tage vorher, am Montag, trudeln die Teilnehmerinnen ein, -innen mit kleinem i – gendern ist nicht nötig, es sind wirklich nur Frauen. Keine Überraschung. Kaffeeduft empfängt uns, frische Blumen und Dinkelkekse; ein netter Empfang. Umkleide gibt es keine, wir ziehen uns also einfach hier im Saal um, mit teils noch schüchternem Blick und verlegenem Lächeln. Das unwetterbraune Wasser der Ill rauscht laut am offenen Fenster vorbei, bringt eine leichte Brise in die schwüle Luft im Saal. Dann kommt doch noch ein Mann zur Tür herein. Zum Glück wenigstens einer. Vorstellungsrunde gibt es keine, „wir werden die kommende Woche noch genug Zeit haben, uns kennenzulernen“, sagt Martin, einer der Workshopleiter. Er soll Recht behalten.

Aus allen Ecken

In der Ausschreibung steht „für Menschen von 8 bis 73“. Diese Alterspanne haben wir fast erreicht. Die Jüngste ist 11, sie ist mit ihrer Mutter da. Die macht Judo und hat den schwarzen Gürtel. Die Älteste ist 63, hat in jüngeren Jahren viel getanzt und schon klare Erwartungen an die Woche. Vier junge Frauen waren beim letztjährigen poolTanz dabei und wissen ungefähr, was auf sie zukommt. „Ich hab mich das ganze Jahr schon auf diese Woche gefreut“, sagt eine begeistert. Zwei weitere pendeln sogar aus Deutschland und der Schweiz hierher, letztere ist ganz froh über den großen Anteil an Frauen, weil sie bei ihrem Job in einer Bank fast nur mit Männern zu tun hat. Der einzige Mann ist mit seiner Frau da, ihre drei Kinder haben sie zuhause gelassen, diese Tanzwoche soll ihr diesjähriger Urlaub sein. Eine Teilnehmerin bewegt sich sonst nur ausdauersportlich in der Natur und hat Zweifel, ob ihr Körper auch zu grazilen Tanzbewegungen fähig ist. Ob tanzunerfahren oder -erfahren, groß oder klein, alt oder jung – diese Woche soll zeigen, dass jeder Mensch tanzen kann. Und „beim Tanzen sind alle gleich“, stellt die jüngste Teilnehmerin am Ende der Woche kurzerhand fest.

Tanzen im Dreieck – und im Oktaeder

Bei poolTanz geht es nicht um Leistung oder das perfekte Ausführen von Bewegungsabfolgen, sondern darum, „tänzerisch kreativ zu sein“, so Anne Thaeter. Sie ist Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin, und hatte die Idee für „poolTanz“. Sie liefert den Teilnehmenden das Werkzeug und bringt das Motto „ein Schuss Geometrie“ in die Woche: sie holt eine Papierrolle und beginnt, geometrische Formen aufzumalen – Dreiecke, Quadrate, ausgemalt und schraffiert. Verwirrte Blicke aus der Gruppe, fragende Gesichter. Sind wir hier im Matheunterricht gelandet? Gibt es am Ende der Woche eine Prüfung? Die Zeichen stammen vom Tanztheoretiker Rudolf von Laban, der ein System zur Aufzeichnung von Bewegungen entwickelt hat. Also eine Art Schrift fürs Tanzen.

Anhand eines gebastelten Würfels wird der dreidimensionale Raum außerdem visualisiert. Wo ist oben? Wie weit geht es nach unten? Und welche Motivation haben wir für unsere Bewegungen? Streben wir nach vor, ziehen wir uns zurück? Wir probieren es aus und merken, dass es gar nicht so kompliziert ist – rechter Arm nach rechts vorne oben, zurückziehen nach links hinten unten: wir tanzen Diagonalen, wir verändern unsere Perspektive, und der Raum öffnet sich.

Aus der Reihe tanzen

Das räumliche Denken hilft uns auch, wenn Martin Birnbaumer uns anleitet. Er und Anne haben unterschiedliche Schwerpunkte und Ansätze, doch sie inspirieren sich gegenseitig und unterstützen einander. Martin ist Tänzer, Physiotherapeut und Tanzpädagoge und bringt seinen ganz eigenen Stil mit. Spontan, kraftvoll, mit viel Humor. Der ist von unserer Seite auch gefragt, wenn er uns eine Schrittfolge zu einem 5/4-Takt beibringen will. Ganz so einfach ist das nämlich nicht. Da kommt es uns sehr gelegen, dass wir aus dem Takt auch ausbrechen, unseren eigenen Bewegungen freien Lauf lassen und improvisieren dürfen. Innerhalb von festen Strukturen und Choreografien bleibt stets genug Platz für individuelle Ausdrucksweisen.

Martin bringt uns ordentlich zum Schwitzen, auch mit seinen täglichen Dehnübungen, die das ein oder andere tiefe Stöhnen und Seufzen hervorrufen. Das morgendliche Schütteln zum Aufwärmen ist nicht nur Anlass für Gelächter und Juchzer, sondern wohl auch die Hauptursache für den Muskelkater, den jede und jeder hat. Als Wiedergutmachung gibt es dafür wohltuende Partnermassagen. Kneten, Schütteln, Ziehen, Strecken und Klopfen tun gut.

Der Körper als Instrument

Geklopft wird auch beim dritten Workshopleiter Andreas Paragioudakis. Nicht nur seine eigenen Trommeln, sondern auch wir werden als Perkussionskörper genutzt. Klatschen, Klopfen auf den Brustkorb und lautes Stampfen sowie der rhythmische Einsatz der Stimme weben einen außergewöhnlichen und überraschend wohlklingenden Klangteppich. Andreas ist Multi-Instrumentalist und Improvisator, Musik- und Bewegungspädagoge, Kindertheatermacher und Musicalclown. Sein Ansatz: „Klang aus der Bewegung erzeugen, Bewegung aus dem Klang hervorrufen, im Dialog, im Kontrast, in Harmonie und Dissonanz.“ Andreas begleitet uns während der gesamten Woche, ob mit zarten Gitarrenklängen, schrägen Akkordeontönen, blechernen Rhythmen auf Kochtöpfen oder Gesang und Geräuschen. Wir lassen uns von seiner Musik inspirieren und gleichzeitig geben unsere Bewegungen ihm Impulse für neue musikalische Einfälle.

Wachsen im Wechselspiel

So entsteht ein Wechselspiel zwischen Musik und Tanz, Bewegung und Stillstand, oben und unten, schnell und langsam, alt und jung. Das ist nur möglich, wenn alle sich einlassen, offen bleiben, Mut haben. Vom ersten Moment an sind wir eine Einheit. Wir wachsen als Gruppe, und jede und jeder wächst individuell. „Ich bin ein Stückchen größer geworden“, meint eine Teilnehmerin am Ende. Und Martin ist ganz hingerissen, als er uns beim Aufwärmen sagt, dass wir alle schöner werden, wenn wir im Kontakt mit unserem Körper sind.

Wir spüren, dass wir aufblühen, haben Freude, nicht nur am Tanzen und der Bewegung zur Musik, sondern auch an der Erschöpfung, dem Muskelkater, den blauen Flecken. Diese sind vergessen, wenn wir am letzten Tag in vorderster Reihe vor dem Publikum stehen, außer Atem, schweißgebadet mit Klamotten, die am Körper kleben, und breit grinsend den Applaus genießen. Jetzt noch eine Familienpizza und Bier als Belohnung, ausgelassene Gespräche und viel Gelächter. Bei den innigen und etwas wehmütigen Umarmungen zum Abschied sind sich die meisten einig: „Bis zum nächsten Jahr beim poolTanz!“
Caroline Begle & Lisa Weiß

 

Weitere Informationen:
www.netzwerktanz.at/unsere-formate/pooltanz/
Fotos der Abschluss-Präsentation:

poolbar.at/galleries/show/317