Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Mirjam Steinbock · 08. Feb 2017 · Tanz

Mit Blick vom höchsten Rang – Das Luzerner Theater erzeugt mit dem Tanzstück „Kinder des Olymp“ den Zauber der Illusion

Das Publikum im SAL Schaan sah sich am Anfang zuerst einmal selbst, denn ein großer Spiegel reflektierte es so, dass es mitten auf der Bühne saß. Und das war erst der Beginn eines Stückes, das elegant zwischen ungewohnten Sichtweisen und mehreren Perspektiven hin und her sprang. Eine tragende Rolle kam dabei dem Bühnenbild in Form einer Wand zu, die je nach Szene als Fenster, Spiegel oder Leinwand diente. Im Wechselspiel mit Lichtstimmungen machte sie die Akteurinnen und Akteure sichtbar, ließ sie wie eine große Sehnsucht auftauchen und wie ein flüchtiges Gefühl wieder verschwinden. Das Tanztheater „Kinder des Olymp“ ist eine moderne Auseinandersetzung mit dem Stoff des gleichnamigen Filmklassikers, der das Theatermilieu des 19. Jahrhunderts beleuchtet. Der brasilianische Choreograf Fernando Melo nahm sich der Steilvorlage an und schuf gemeinsam mit dem Ausstatter Patrick Kinmonth eine poetische und sehr zauberhafte Adaption.

„Les Enfants du paradis“, wie der Originaltitel von „Kinder des Olymp“ lautet, gehört zu den bedeutenden Werken der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts. Der dreistündige Film entstand unter widrigen Verhältnissen in Paris während des Zweiten Weltkrieges. Regisseur Marcel Carné erschuf mit ihm ein Monumentalwerk, das angeblich noch heute jeden Tag in mindestens einem Kino der französischen Hauptstadt zu sehen ist. Die Idee, mit Inspirationen aus dem Film ein zeitgenössisches Tanztheater zu entwickeln, stammt von Kathleen McNurney, der künstlerischen Leiterin des Tanzensembles vom Luzerner Theater. Sie beauftragte den brasilianischen Choreografen Fernando Melo mit der Umsetzung, und dieser fand in dem Bühnen- und Kostümbildner Patrick Kinmonth einen Experten, mit dem er Konzept und Details akribisch ausarbeitete. Opulente Kostüme, der Zeit entsprechende Requisiten, elegante Bewegungsabfolgen, außergewöhnliche Artistik-Nummern und eine herausragende Technik tragen dazu bei, dass ein Kaleidoskop für das Spiel mit Illusionen entstand.

Melo und Kinmonth überzeugen mit handwerklichem Können

Die Voraussetzungen für Melo und Kinmonth müssen im Gegensatz zum Entstehen des Films in den Wirren des Krieges mit einem Defizit an überlebenswichtigen Gütern nahezu luxuriös gewesen sein. Sie dürften mit dem vierzehnköpfigen Tanzensemble aus dem Vollen geschöpft haben, das die außergewöhnlichen Choreografien in ständig wechselnden Bühnenbildern tatkräftig umsetzte und Szenen unermüdlich probte, um den gewünschten visuellen Effekt herzustellen. Die Kostüme wurden originalgetreu geschneidert und mit leichter Seide versehen, um überhaupt mit ihnen tanzen zu können. In einem Theater dieser Größe müsse jeder Stich passen, so Kinmonth, der die Kleider als „Couture“ bezeichnet. Die Musik zum Stück mit bekannten Werken von Frédéric Chopin und Claude Debussy und zeitgenössischen Kompositionen des Letten Peteris Vasks wurden vom Luzerner Sinfonieorchester am Theater in Luzern live eingespielt.
Mit einer so großartigen Filmvorlage zu arbeiten, bei der die Handlung vielschichtig und die Atmosphäre dicht sind, verlangt trotz des neuzeitlichen Überflusses nach einer konsequenten Dramaturgie und viel handwerklichem Können. Beides setzten die passionierten Theaterschaffenden Melo und Kinmonth überzeugend um, und ihre so deutlich vermittelte Leidenschaft passt gut zu dem Film, der sich um das Leben von Pantomimen, Artisten und Komödianten dreht und auch einen Blick hinter die Kulissen und in die Publikumsreihen wirft. So verwunderte es nicht, dass Melo das Ensemble sowohl tanzend als auch als Requisiteure einsetzt, und zwar nicht verborgen hinter der Bühne, sondern gut sichtbar als Teil der Inszenierung.

Poetischer Mittelteil mit ungewöhnlichen Perspektiven

Bei dem Tanzstück war es schließlich der mittlere Teil, der mit seinem Perspektivenwechsel, dem Witz und der Poesie das Publikum in Schaan zum Lachen brachte und begeisterte. Eingebettet in den melancholischen ersten und schmerzerfüllten dritten Akt wirkte der mittlere mit den Darbietungen der auf dem Boden liegenden Tänzerinnen und Tänzer erfrischend und amüsant. Die ZuschauerInnen haben den Blick aus einer Vogel-Perspektive wie einst das Publikum auf den obersten Rängen der Theater in Paris. Kinder des Olymp hießen die Menschen, die sich nur die billigsten Plätze unter der Theaterkuppel leisten konnten und sich mit einem verzerrten Bild begnügen mussten. Und so auch hier: man schaute den TänzerInnen auf den Kopf. Eine Live-Kamera, die die Darbietungen von oben filmte, sorgte dafür, dass die projizierten Bilder eine Frontalansicht ergaben. Damit hatte man zwei Ansichten und durfte ständig zwischen beiden wechseln, was angesichts der Spielfreude des Ensembles und all der zauberhaften Einfälle – wie die Schmetterlingsjagd oder eine artistische Nummer mit Sprüngen – unglaublich viel Spaß machte.

Der Fokus liegt auf der Atmosphäre statt auf den Figuren

Die Entführung in eine Theaterwelt inmitten eines Tanzstücks ist dem Choreografen und Ausstatter mit dem Ebenenwechsel gelungen. Dies mag schließlich die größte Nähe zum Film sein - sofern man ihn gesehen hat und überhaupt vergleichen kann. Den Film zu kennen, sei nicht nötig, hieß es in der Einführung, aber ohne die Kenntnis der Filmhandlung ist das Publikum oft auch sich selbst überlassen. Melo gelingt es zwar, eine Handlungsfolge des Films mithilfe der Wand, die die TänzerInnen zwischen zeitlichen Ebenen wechseln lässt und Visionen und Träume sichtbar macht, zu erahnen und auch das Liebesleiden ist gut nachvollziehbar. Die Persönlichkeiten in ihrer Individualität wahrzunehmen, war hier jedoch nicht möglich. Zu schnell wechselten die Bilder und manche Handlungen legten sich rascher übereinander als man folgen konnte. Die Tänzerinnen und Tänzer stellten die Szenen dennoch anmutig und vor allem nahezu lautlos wie in einem Stummfilm dar. Bisweilen nahmen sie Posen ein und verlangsamten ihre Bewegungen im Kontrast zur sich drehenden Spiegelwand und zu den dunklen Vorhängen, die sich ineinander schoben. Das Spiel blieb jedoch distanziert, die Mimik eher unbewegt. Dachte man an die oft gelangweilte und doch begeisterungsfähige Femme Fatale „Garance“, um die im Film gleich vier Männer buhlten und an das eindrückliche Spiel des unglücklichen Pantomimen „Baptiste“, konnten ihnen die Darstellenden in diesem Tanzstück nicht das Wasser reichen. Das Persönliche der Figuren sichtbar zu machen lag Fernando Melo scheinbar nicht am Herzen. So blieben vor allem die Technik und der verführerische Zauber von Artistik, Täuschung und Überraschung die Stars des Abends.

Das Stück mit Live-Musik in Luzern erleben

Dass die Musik abgespielt und nicht live erlebbar war, auch das schmerzte ein wenig bei „Kinder des Olymp“ in Schaan. In der Inszenierung wurde deutlich, wie wichtig der Part der Musik ist und wie gut durchdacht der Wechsel zwischen zeitgenössischen und klassischen Werken. Dass bei einem Tourneestück der Einsatz eines Orchesters technisch wie finanziell schwierig umzusetzen ist, leuchtet ein. An diesem Abend erhielt das Publikum neben guter Unterhaltung auch einen Eindruck, wie ein Mehrspartenhaus wie das Luzerner Theater arbeitet und wie vielschichtig der Zeitgenössische Tanz sein kann. Daher lohnt es sich immer, sich intensiv mit dem Programm des TAK und der vermittelnden Arbeit des künstlerischen und technischen Teams rund um Intendanten Thomas Spieckermann zu beschäftigen und sich inspirieren zu lassen, noch weiter über die Grenzen hinaus zu gehen. Viel Applaus gab es für die „Kinder des Olymp“ und ein Besuch des Stücks in Luzern wäre sicher eine gute Idee, um auch noch in den live dargebotenen musikalischen Genuss des Sinfonieorchesters zu kommen.

 

„Kinder des Olymp“ noch bis 23. April 2017 im Luzerner Theater. www.luzernertheater.ch

Programm Theater am Kirchplatz in Schaan: www.tak.li