Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Peter Füssl · 08. Jun 2012 · Tanz

Faszinierend und verstörend zugleich – Chris Haring/Liquid Loft und Michel Blazy entführen beim tanz ist Festival in einen (alb)traumhaften „Zaubergarten“

Chris Haring/Liquid Loft steuern seit Jahren grandiose Produktionen zu Günter Marinellis tanz ist Festival am Dornbirner Spielboden bei, die auch international auf große Begeisterung stoßen. Heuer steigern sie sich nochmals und sprengen gemeinsam mit dem französischen Objektkünstler Michel Blazy sowohl räumlich als auch inhaltlich alle bislang gewohnten Dimensionen. Wer den intelligenten Mainstream beim „Bregenzer Frühling“ genossen hat, sollte sich zur Vervollständigung seines Wissensstandes unbedingt dieses gleichermaßen spannende wie radikale Experimentierfeld des zeitgenössischen Tanzes ansehen.

Daseinsformen des Lebens


Vorplatz, Eingangsbereich, Foyer, Probesaal, Galerie, Kino und natürlich großer Saal – das Spielboden-Areal ist großflächig zur Spielwiese geworden, die man sich erwandern muss. Skurrile Spaghettiblumen, mit Agar-Agar renaturalisierte Betonwände und Glasflächen, wuchernde Pilzlandschaften, stetig wachsende und vom Wind wieder verblasene Schaumskulpturen – der Spaziergang wird schnell zur Entdeckungsreise ins Ungewisse, bei der buchstäblich hinter jeder Ecke eine neue Überraschung wartet. Rasch nimmt das Ganze (alb)traumhafte, archaische Züge an, denn der „Perfect Garden“ ist wie das Leben selber – vom Samen zum eben erst sprießenden Keimling, von der perfekten Daseinsform zu den ersten Alterungserscheinungen, vom Tod bis zur Verwesung. In Blazys Objekten spannt sich dieser Bogen von phantastischen, mit Linsenkeimlingen bedeckten „Meteoriten“ bis zur verwesenden Melonenhälfte, die live gefilmt und auf  Kinoleinwanddimension vergrößert, offenbart, was normalerweise im Verborgenen bleibt, dass sie nämlich gerade in diesem Fäulniszustand neues Leben gebiert. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Melone oder der Broccoli wenig vom Menschen. Im KULTUR-Interview (Juni 2012) meinte Chris Haring im Vorfeld noch, „der Garten liegt irgendwo zwischen dem Kurort Oberlaa und  dem ‚Garten der Lüste’ von Hieronymus Bosch“ – mittlerweile hat sich der Schwerpunkt wohl klar auf Letzteres verschoben.

Unkonventioneller Tanz zu unkonventionellen Tönen


Die Tänzerinnen und Tänzer faszinieren erst einmal solistisch und in kleinen Gruppen über die Räumlichkeiten verteilt und finden sich zum großen Finale im Großen Saal ein. Musik im herkömmlichen Sinn ist eher die Ausnahme, stattdessen werden babylonisches Sprachengewirr, absurde Gesprächsfetzen, Schreie, Jammern und das ganze restliche Arsenal an menschlichen Lautäußerungen gesampelt, verfremdet und in Endlosloops über die Lautsprecher gejagt. Dieser originelle Soundtrack verlangt natürlich auch nach dementsprechend unkonventionellen Bewegungsmustern, die den Tänzerinnen und Tänzern mit verblüffender Leichtigkeit gelingen. Da knarren sich in der Umarmung wiegende Paare wie trockenes Holz, werden unverständliche Redeschwälle politischer Sonntagsredner gleich ins Publikum geschleudert und kurz einmal scheinen sogar paradiesische Zustände möglich zu sein. Im Finale finden sich dann alle im riesigen, transparenten Kubus in einem Dschungel aus Klebefäden wieder, mit denen sie mal zu kämpfen haben, die aber auch zur spielerischen tänzerischen Auseinandersetzung einzuladen scheinen. Der Mensch im Wirrwarr der für ihn nicht durchschaubaren Lebensfäden, wobei durch die Aufhebung jeglicher Grenze zwischen Publikums- und Bühnenbereich bloßes Zuschauen und Konsumieren kaum mehr möglich ist. Man ist mitten drin im „Perfect Garden“, der Zeit und Raum und die Vergänglichkeit aller Dinge auf spannende und augenscheinliche Weise demonstriert. Ein Erlebnis, das weit über eine übliche Tanzperformance hinausgeht.

Es gibt nur noch eine Aufführung:
Samstag, 9.6., 20.30 UhrSpielboden Dornbirn
www.spielboden.at www.tanzist.at
Wer das versäumt, versäumt viel!