Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Peter Füssl · 18. Jun 2022 · Tanz

Eine quicklebendige Tanz-Ikone – Louise Lecavalier wurde beim tanz ist Festival mit Standing Ovations gefeiert

Sie wollte eigentlich niemals Tänzerin werden, erzählte die freundlich alle Fragen beantwortende Louise Lecavalier im Publikumsgespräch nach der Aufführung beim tanz ist Festival am Spielboden. Im Rahmen einer Schulaufführung habe man ihr dann aber statt der gewünschten Sprechrolle eine Tanzrolle zugewiesen, auch weil sie die Kleinste und somit für die beteiligten Burschen leicht zu heben war – das brachte den Stein ins Rollen, der Rest ist Tanz-Geschichte: 1981 war die in Montreal geborene Kanadierin bei der Gründung der von Édouard Lock geleiteten Kult-Compagnie La La La Human Steps dabei, deren umjubelte Frontfrau sie bis 1999 blieb. Ihren ungemein kraftvollen, hochenergetischen und eigenwilligen Tanzstil fanden in den 1990er Jahren auch prominente Kooperationspartner wie David Bowie (Sound+Vision Tour, Fame ‘90) und Frank Zappa („The Yellow Shark“) aufregend. Nach ihrem verletzungsbedingten Rückzug aus der Compagnie folgten Babypause und Operation. Mit zwei neuen Hüften endete 2012 die nervenzehrende Durststrecke, als Lecavalier die Premiere ihres ersten selbst choreographierten Solostücks „So Blue“ feiern konnte. Am Spielboden begeisterte die mittlerweile 63-jährige, quicklebendige Tanz-Ikone nun mit ihrer neuesten Solo-Produktion „Stations“ – und die Begeisterung des Publikums schien überbordend, denn Standing Ovations sind beim tanz ist Festival wirklich eine große Ausnahme.

Fluidität, Kontrolle, Meditation und Obsession

Das sind die vier Begriffsfelder bzw. Körperzustände, die Louise Lecavalier in einer Stunde im knapp vor dem Corona-Ausbruch 2020 uraufgeführten „Stations“ durchtanzt – der Schwerkraft trotzend, Virtuosität und Kreativität vereinend und jegliches Alter der Akteurin vergessen lassend. Sie verfügt über eine unglaubliche Körperbeherrschung, scheint ihre Gliedmaßen völlig unabhängig voneinander bewegen und kontrollieren zu können. Dasselbe gilt für ihren Gleichgewichtssinn: sich scheinbar endlos auf einem Fuß fortzubewegen, null Problem – und dabei kann frau das andere Bein im rechten Winkel von sich strecken und zusätzlich noch getrost mit Armen und Händen rudern und gestikulieren. Aber die Fortbewegungstechniken von Louise Lecavalier wären ohnehin einer kleineren wissenschaftlichen Abhandlung würdig. So kann sie sich etwa mit winzigen Fußbewegungen in ultrakleinen Schritten seitlich bewegen, als ob sie schweben würde. Dieses sonderbare Trippeln funktioniert schließlich aber kreuz und quer in alle Richtungen und in rasendem Tempo. Besonders gut macht es sich zum eigenwilligen Saxophon-Sound des Kanadiers Colin Stetson, der mittels Zirkularatmung endlose Linien spielt und durch gleichzeitiges Singen und Einbeziehen von Klappengeräuschen eine Art mehrstimmige Gebilde erschafft. Lecavalier hat ganz generell ein exzellentes Händchen für experimentelle Musik – so steuern etwa auch die electronic-affinen Expermental-Rocker SUUNS and Jerusalem In My Heart aus Montreal oder der Einstürzende Neubauten-Frontman Blixa Bargeld zum eindrucksvollen Soundtrack bei.  

Energieschübe und tiefe Emotion

Nicht nur im letzten Bild „Obsession“ erledigt das Energiebündel kräftezehrende Aktionen mit federnder Leichtfüßigkeit, sie gerät niemals außer Atem oder ins Schwitzen – und das an einem reichlich schwülen Tag. Sie bewegt sich jenseits des Narrativen, mit wenigen Ausnahmen: Einmal stilisiert sie sich mit dem Finger kurz weinende und lächelnde Züge ins Gesicht, einmal ficht sie in klassischer Haltung einen kleinen Boxkampf aus. Sonst bleibt alles vieldeutig. Mimik und Gestik lassen aber dennoch tiefe Einblicke in ihre inneren Existenzkämpfe zu und rufen starke Emotionen wach. Gleichzeitig setzt Lecavalier in ihrem schwarzen Glockenhosen-Outfit mit schwarzem Top und Ledersakko durchgängig auf Coolness.
„Blue is not the colour of my voice“ lautet die haftenbleibende, synästhetische Eingangszeile von „Nerissimo“, einem magisch wirkenden, 2016 veröffentlichten Song der Art-Rock-Electronic-Experimentalisten Blixa Bargeld & Teho Teardo. Genau der richtige Soundtrack, um dazu den dem Publikum zugewandten Rücken um 90° nach hinten zu beugen und die Zuschauer:innen eine gefühlte Ewigkeit lang mit dem Blick zu fixieren, während sich die Lippen synchron zu Bargelds Text bewegen. Eine gespenstische Szene.
Aber nicht nur die von Antoine Berthiaume arrangierten, exzellenten Songs und Soundscapes funktionieren wirkungsvoll, sondern auch das höchst ästhetische Light-Design von Alain Lortie, das ohne große Effekthascherei elegante Räume schafft. 

Das Phänomen Louise Lecavalier

Die Louise Lecavalier der Gegenwart mag vielleicht im Vergleich zur Tanz-Revolutionärin der 1980er/90er Jahre weniger auf Athletisches setzen, aber ihre Physis eröffnet ihr – gepaart mit exzellenter Technik und einer ungebrochenen Experimentierlust – immer noch unglaubliche Möglichkeiten, von denen weit Jüngere nur zu träumen vermögen. Und auf der emotionalen Ebene erreicht sie – nicht zuletzt aufgrund ihrer Ehrlichkeit und Offenheit – eine Leidenschaftlichkeit von außergewöhnlichem Tiefgang. „Ich habe vor und nach ihr nie etwas Vergleichbares erlebt. Sie ist ein Phänomen und beeindruckt nachhaltig. Es ist, als käme sie direkt aus ihrem eigenen Tanzuniversum und präsentierte Tanz in seiner reinsten Form. Jede Sekunde ist neu und noch nie passiert – und das an der Grenze des Machbaren. So war sie immer schon, und bis heute hat sich nichts daran geändert.“ Mit diesen Worten charakterisierte tanz ist-Leiter Günter Marinelli im Vorfeld des Festivals Louise Lecavalier gegenüber der KULTUR-Zeitschrift. Und dem ist auch nach dem auf allen Ebenen gelungenen Festival nichts hinzuzufügen. Louis Lecavalier ist ein zeitloses Ereignis!

 

Kurzentschlossene können Louise Lecavalier heute, Samstagabend, um 20.30 Uhr nochmals mit „Stations“ am letzten Abend des tanz ist-Festivals erleben.

Einen Blick werfen sollte man auch auf die Installation „Tanz und Feminismus“ von Monika Kräutler auf der Spielboden-Galerie. Zehn prägende Tänzerinnen und Choreographinnen der letzten achtzig Jahre, unter anderem etwa Martha Graham, Rosalia Chladek, Josephine Baker oder Pina Bausch, werden durch eine mit einer Kollage aus historischen Fotos überzogenen Schaufensterpuppe symbolisiert. Die Eindrücke lassen sich durch einschlägige Filmszenen aus den Tanzwerken der Dargestellten vertiefen.
www.tanzist.at  
www.spielboden.at