Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Peter Füssl · 17. Apr 2023 · Tanz

Standing Ovations für Emanuel Gat Dance im Festspielhaus

Beim „Bregenzer Frühling“ werden in schöner Regelmäßigkeit Tanzaufführungen präsentiert, die Staunen machen über Phantasie und Kreativität international renommierter Choreograph:innen, über die manchmal jeglichen Gesetzen der Physik und der Anatomie zu trotzen scheinende Körperbeherrschung der Tänzer:innen, über Bühnenbild, Ausstattung, Kostüme und Lichtdesign als Quellen unvergesslicher optischer Eindrücke. Aber nicht zwangsläufig endet das wie bei der Österreichischen Erstaufführung von „Lovetrain2020“ von Emanuel Gat Dance im Bregenzer Festspielhaus mit spontanen, die Akteur:innen x-mal auf die Bühne zurückholenden Standing Ovations.

Ausgangspunkt: einschneidendes Musikerlebnis am Bahnhof

Seit dreißig Jahren entwickelt der aus Israel stammende Choreograph Emanuel Gat seinen ganz persönlichen Stil, 2004 gründete er seine Compagnie am Suzanne Dellal Centre for Dance and Theatre in Tel Aviv – aus diesem höchst produktiven Stall stammt etwa auch die Batsheva Dance Company, die schon 2001 mit „Deca Dance“ Begeisterungsstürme im Bregenzer Festspielhaus entfachte. Seit 15 Jahren ist Gat in Frankreich ansässig. 2019 hörte er am Pariser Gare de l’Est zufällig „Sowing the Seeds of Love“ der britischen Band Tears for Fears aus einem Lautsprecher, was spontan sein Interesse weckte und letztlich zu dieser ein Jahr später mitten in der Corona-Pandemie uraufgeführten Produktion führte. Den Titel „Lovetrain“ entlehnte er aus der zweiten Textzeile des extrem an den Sound der Beatles erinnernden Songs, der 1989 ein internationaler Hit und gegen die Regierung Margaret Thatchers gerichtet war: „High time we made a stand and shook up the views of the common man/And the lovetrain rides from coast to coast.“

Tears for Fears

Curt Smith und Roland Orzabal haben 1981 im englischen Bath Tears for Fears gegründet, wobei der Bandname eine Hommage an den damals extrem populären amerikanischen Psychologen und Buchautor Arthur Janov und dessen Urschrei(Primal Scream)-Theorie war: vereinfacht gesagt, man soll an die Quelle seines Unbehagens zurückgehen und Tränen als Ersatz für seine Ängste drauflegen. Auch in der britischen Pop-Kultur erregten diese eine positive Wiedergeburt verheißende Theorien großes Aufsehen und inspirierten zum Beispiel John Lennon zu einem Song „Mother“. Vom Postpunk kommend stürmten Tears for Fears mit ihrem kraftvollen New Wave-Synth-Pop-Mix in den 1980ern die Charts und eroberten Diskotheken und Dancehalls. Mit ihren über weite Strecken engagierten und kompromisslosen Texten überzeugten sie auch die meisten Kritiker. Dabei wusste vermutlich ein Großteil der Millionen an Tanzwütigen gar nicht, dass etwa der Mega-Hit „Shout“ nicht nur als Hinweis auf die Lehren Janovs (erkennen – ausschreien – Heilung) zu verstehen ist, sondern sich auch auf die internationalen Protestbewegungen gegen den „Kalten Krieg“ bezieht.
Aber auch für Emanuel Gat und die vierzehn aus aller Welt zusammengewürfelten Tänzer:innen spielen solche textlichen Implikationen keine wesentliche Rolle, wie er in einem Interview erklärte, denn sie tanzten in einer anderen Produktion ja auch zu von Maria  Callas auf Italienisch gesungenen Arien, ohne sie überhaupt zu verstehen. So waren es also die rein musikalischen Aspekte, die ausschlaggebend für die Auswahl der Titel waren, wobei auffällt, dass Gat chronologisch vorgegangen ist. Am Anfang von „Lovetrain 2020“ stehen Stücke aus dem 1983er Tears for Fears-Debüt-Album „The Hurting“ („Ideas as Opiates“, „The Prisoner“, „The Working Hour”, „Mad World”, „Pale Shelter”), darauf folgen nach dem einzigen völligen Blackout der Produktion die größten Hits aus dem musikalisch bedeutend ausgereifteren 1985er Nachfolge-Album „Songs From The Big Chair“ („Everybody Wants to Rule The World“, „Shout”, “I Believe”), um dann mit dem bereits erwähnten Song „Sowing The Seeds of Love“ aus dem 1989er Album „The Seeds of Love“ in ein grandioses Finale zu gehen.

Tanz mit, gegen und ganz ohne Sound

Emanuel Gat ist bekannt dafür, dass er seinen Tänzer:innen innerhalb der Choreographie viele improvisatorische Spielräume lässt. Dementsprechend wohl scheinen sie sich auch bei ihren Soli, Duetten, Kleingruppen-Auftritten und Ensemble-Präsentationen zu fühlen, die trotz ausgefallenem, teils auch kräfteraubendem Bewegungsvokabular und komplexen Interaktionen zumeist ausgesprochen locker und entspannt wirken. Oft finden nur Bruchstücke aus den Tears for Fears-Hits Verwendung, zu denen sich die Tänzer:innen passend bewegen, manchmal aber auch widerspenstig gegen den Strich bürstend oder extrem verlangsamt. Und nicht selten wird der Sound total ausgeblendet und das Tanzgeschehen in völliger Stille weitergeführt, wodurch sich eine ganz besondere Intensität entwickeln kann. So wird deutlich, dass Tanz klarerweise viel mehr ist als die Behübschung von Musik ist. Es gibt keinen roten Faden, es wird keine Geschichte erzählt, und Gat spielt auch mit enttäuschten Erwartungshaltungen. So wurde beispielsweise, wer sich zum energiegeladenen Super-Hit „Shout“ ganz besonders viel Action erwartete, mit einer völlig zurückhaltenden Choreographie überrascht.

Kostüme, Licht und Nebel

Wesentlich zur erfrischend lockeren Wirkung der Akteur:innen tragen die vom Tänzer Thomas Bradley entworfenen phantasievollen Kostüme bei, die zwischen barockem Volumen und Farbenpracht, ethnischen Anspielungen und post-apokalyptischen Anmutungen changieren. Edle Stoffe und Materialien, elegante Verarbeitung und übergroßes Schlabberdesign gehen dabei Hand in Hand. Für das Lichtdesign zeichnet Emanuel Gat selbst verantwortlich. Er zieht alle Register und schafft mit Hilfe mehr oder weniger dicht wabernder Nebelschwaden, kombiniert mit Beleuchtungseffekten, eine Unzahl von Stimmungen – von gleißendem Sonnenlicht, über mystische Nebellandschaften bis zu tiefschwarzer, düsterer Gewitterszenerie. Von besonderer Wirkung ist es, wenn ein Teil der Tänzer:innen direkt an der Bühnenrampe steht, ohne vom Scheinwerferlicht erfasst zu werden und eine scherenschnittartige Staffage vor den dahinter im Licht Tanzenden bildet. Einmal hebt Gat die Grenze zwischen Darsteller:innen und Zuschauer:innen überhaupt auf, indem er das Licht auf der Bühne und im Publikumsraum voll auffahren lässt – eine eigenartige Erfahrung, wenn man als „Voyeur:in“ der Dunkelheit beraubt und aus der Anonymität herausgerissen wird.  
Einziges, aber sehr effektvolles Bühnenbildelement bildet eine hohe Wand im Hintergrund, mit vier vertikalen, sehr hohen und schmalen Öffnungen, durch die Licht und Nebel in den Bühnenraum eindringen und die Tänzer:innen ein- und ausgehen.

Lässig cooles Statement der Lebensfreude

„Lovetrain2020“ wurde mitten in eine Welt bislang – zumindest in unseren Breitengraden – unbekannter Verunsicherungen hineingesetzt, die geprägt war von Lockdowns, Existenznöten, Zukunftsängsten, Isolation, Vereinsamung und tiefen gesellschaftspolitischen Verwerfungen. Die Tänzerinnen und Tänzer durchlaufen in den 70 Minuten eine Vielzahl an Emotionen, denen sie gleichermaßen ausdrucksstark wie unkonventionell Statur verleihen. „Lovetrain2020“ bleibt aber durchwegs positiv geladen, und das energievolle und berauschende Finale erfreut sich im besten Sinne hippiesker Züge. Zuerst lässt nochmals Arthur Janov grüßen:

„Feel the painTalk about itIf you're a worried man, then shout about itOpen hearts, feel about itOpen minds, think about itEveryone, read about itEveryone, scream about it!Everyone (Everyone yeah, yeah)Everyone (Everyone), read about it, read about itRead in the books in the cranniesAnd the nooks there are books to read for us!”

Und dann schallt über Minuten hinweg zu entspannt getanzter Flower-Power, die hoffnungsfroh in die Zukunft blicken lässt, Mantra-gleich aus den Lautsprechern:

“Sowing the seeds of love (anything is possible)Seeds of love (when you're sowing the seeds of love)Sowing the seedsSowing the seeds of love (anything is possible)Seeds of love (when you're sowing the seeds of love)Sowing the seeds ...”

Weitere Aufführungen beim Bregenzer Frühling 2023:
5.5., 20 Uhr: Akram Khan Company „Jungle Book reimagined”
15. – 18.6., 20 Uhr: aktionstheater ensemble „Morbus Hysteria – Wir haben alle recht“ (UA)
www.bregenzerfruehling.com