Neu in den Kinos: „Beautiful Wedding“ von Regisseur Roger Kumble (Foto: Leonine)
Peter Füssl · 22. Okt 2023 · Musik

Rymden – perfekte Chemie & exzellentes Können

Wesseltoft, Berglund und Öström begeisterten im INDUSTRIE36 in Rorschach

Manchmal kann Ruhm auch zur Bürde werden. Als 2008 der schwedische Pianist Esbjörn Svensson bei einem tragischen Tauchunfall ums Leben kam, hatte er im Trio mit Bassist Dan Berglund und Drummer Magnus Öström fünfzehn Jahre lang mit einem Dutzend höchst erfolgreicher und wegweisender Alben, mit unzähligen Konzerten und als Dauergast sowohl in den Jazz- als auch in den Pop-Charts Jazz-Geschichte geschrieben. Es dauerte zehn Jahre, bis sich die beiden überlebenden e.s.t.-Mitglieder gemeinsam mit dem norwegischen Pianisten Bugge Wesseltoft wieder ans Piano-Trio-Format heranwagten. „Gott sei Dank“ möchte man angesichts des grandiosen Auftritts von Rymden im INDUSTRIE36 in Rorschach sagen, wo die Kulturfabrik Rorschach in Kooperation mit dem St. Galler Jazzclub Gambrinus seit zwei Jahren Konzerte aus den unterschiedlichsten Genres veranstaltet.

Drei großartige Individualisten ...

Wer sich ein bisschen im Jazz auskennt, weiß, dass wir es hier mit drei herausragenden Musikerpersönlichkeiten zu tun haben – Meister auf ihren Instrumenten, aber auch hervorragende Komponisten, die es verstehen, ihren jeweiligen Formationen Maßgeschneidertes auf den Leib zu schreiben.

Bugge Wesseltoft, Jahrgang 1964, ist – nicht zuletzt auch wegen seines höchst aktiven Musiklabels Jazzland – eine zentrale Figur im norwegischen Jazz jenseits des Mainstreams und ein stilbildender Wegbereiter, wenn es um die Fusion von Jazz und Electronics geht. Was er unter „New Conception of Jazz“ versteht, wird einem rasch klar, wenn man ihn in Action sieht, permanent zwischen Konzertflügel und einem Arsenal an Keyboards und Synthesizern hin- und herwechselnd, die rundum ihn angeordnet sind – einem Piloten im Cockpit gleich. Wesseltoft ist enorm experimentierfreudig und kennt keinerlei stilistische Berührungsängste. Lyrisches, Romantisches, Verträumtes, Zupackendes, Simples und Vertracktes – alles zaubert er mühelos auf seinen Tasten. Mancher hypnotisch wirkende Groove klingt sogar nach e.s.t., manches erinnert auch an Krautrock oder statt e.s.t. an ELP, als hätte er gerade ein in den frühen 1970-er Jahren bei Emerson, Lake and Palmers Aufnahmen zu „Pictures at an Exhibition“ verloren gegangenes Stück wieder gefunden. Immer aber klingt es nach Bugge Wesseltoft. Der ist übrigens auch am akustischen Piano und solo agierend hervorragend – es sei nur an sein exzellentes „It’s Snowing On My Piano“ erinnert, das möglicherweise beste Jazz-Weihnachtsalbum aller Zeiten, oder an seine verjazzten Pop-Songs „Everybody Loves Angels“ (beide auf ACT erschienen).

Seine schwedischen Kompagnons stehen ihm in nichts nach. Der 1963 geborene Kontrabassist Dan Berglund hat nach e.s.t als Leader des Quartetts Tonbrucket sechs hervorragende Alben im Spannungsfeld von Jazz, Psychedelic-Rock, Electronics und Neo-Folk herausgebracht – das zeigt gleich auch schon, dass er vom Gedanken an Genregrenzen nicht groß geplagt wird. Er versteht es, seinen Tieftöner mitreißend grooven zu lassen, ist aber auch ein absoluter Meister im Umgang mit dem Bogen und entlockt dem Instrument manchmal mit dezenter Elektronik auch ungewohntere Sounds. Kontrabass in reiner Begleitfunktion? Nicht bei Berglund, der gerne auch mal die Melodieführung übernimmt.

Magnus Öström, 1965 geboren, hat zwischen e.s.t. und Rymden als Leader eines Quartetts die exzellenten Alben „Thread Of Life“ und „Searching For Jupiter“ herausgebracht, in denen er einen exquisiten Mix aus Jazz, Prog-Rock und Electronics präsentierte. Öström verbindet auf geniale Weise Präzision und Intellekt des Jazz mit Kraft und Emotion des Rock. Er kann enormen Druck erzeugen, das musikalische Geschehen spannungsgeladen vorantreiben, harte Rhythmen schlagen, aber auch auf höchst subtile Weise Impulse geben und Stimmungen und Atmosphären zaubern – wozu ihm auch ein interessantes Arsenal an Perkussionsinstrumenten dient, deren Klang er manchmal mit Hilfe eines kleinen Mikrophons zusätzlich noch elektronisch verfremdet.

... in Band-förderlicher Dauerkommunikation

Was Rymden so besonders macht, ist wohl die Tatsache, dass sich diese drei Individualisten nie auf den Ego-Trip begeben, sondern stets Band-dienlich agieren. Die Kompositionen dieses Abends – der Großteil stammte vom vor zwei Wochen erschienenen Album „Valleys & Mountains“, aber zum Beispiel auch „Terminal One“ vom letzten Album „Space Sailors“ schaffte es auf die Set-List – decken ein breites Spektrum an Emotionen ab – lässig groovend, in melancholischer Schönheit schwelgend, heftig rockend, eine magische Anziehungskraft entfaltend. Die Stücke können mehrfach ihren Charakter ändern, unvorhersehbare harmonische und dynamische Entwicklungen durchlaufen, in unterschiedlichen Soundfarben erstrahlen – schlicht und einfach: überraschen. Folglich befinden sich die drei Musiker in einer konzentrierten, aber locker-flockig wirkenden Dauerkommunikation. Wie sie sich immer wieder wechselseitig Blicke zuwerfen, über gelungene Passagen oder gekonnte Soli der Partner zufrieden schmunzeln, beweist aber auch, dass es ihnen noch unglaublichen Spaß macht, dass das gleichermaßen anspruchsvolle wie höchst unterhaltsame musikalische Geschehen auch im x-ten Konzert längst nicht zur bloßen Routine erstarrt ist. Und dieser Funke ist im INDUSTRIE36, das durch seine intime Atmosphäre den idealen Rahmen für dieses Trio bot, auch völlig problemlos aufs Publikum übergesprungen, das sich restlos begeistert zeigte und noch eine Zugabe erklatschte. Die spendierten Rymden mit der wunderschönen Ballade „Ro“ vom aktuellen Album – aus der Feder Bugge Wesseltofts, wobei aber oftmals Berglunds warmtönender Bass die Melodieführung übernimmt, untermalt von Öströms feiner Besenarbeit. Ein grandioses Trio völlig ebenbürtiger Solisten, deren Musik Kopf und Bauch gleichermaßen anspricht!

Kulturfabrik Rorschach in der INDUSTRIE36 Rorschach & Gambrinus St. Gallen

Diese Adresse in der Rorschacher Industriezone sollten sich auch Vorarlberger Jazz-Fans mal ansehen: ein cooler, mittelgroßer Veranstaltungssaal (ca. 150 Sitze oder 300 Stehplätze), der seine ehemalige Verwendung auf charmante Weise erahnen lässt – mit einer Bar, an der man das Warten auf den Konzertanfang auf angenehme Weise verkürzen kann. Nette Menschen, tolle Atmosphäre, interessantes Programm – mit dem Auto in einer halben Stunde von Dornbirn aus zu erreichen.

Der Verein Gambrinus Jazz Plus St. Gallen verfügt nicht über eine eigene Konzertstätte, sondern sucht sich für jedes Konzert die entsprechenden Räumlichkeiten. Dessen Präsident ist der St. Galler Kulturvermittler Andreas B. Müller, der auch wichtige Funktionen in der Kulturfabrik Rorschach erfüllt.  

Die nächsten Konzerte in St. Gallen und Rorschach
Fr, 27.10. Yotam Ben-Or Quartet, Jazz
So, 29.10. Jan Lundgren & Hans Backenroth, Jazz-Poetry
Do, 2.11. Grégory Privat solo, Jazz
So, 5.11. Thomas Biasotto Big Band feat. Goran Kovacevic, Jazz-World
Mo, 6.11. Emmet Cohen Trio, Jazz
Mi, 8.11., Passona, Soul-Blues
Fr, 10.11. Violons Barbares, Balkan-Folk-Global Sounds
Sa, 11.11. Kommuna Lux, Klezmer-Odessa Gangsta Folk
Do, 16.11. Kinga Glyk, Funk-Jazz-Blues
Sa, 18.11. Stephanie Lottermoser / Way Back Home, Souljazz-Rockjazz-Funk-Groove
So, 19.11. Franco Ambrosetti Quintet, Jazz
Mi, 22.11. The Baylor Project, Jazz-Soul
Do, 23.11. Camille Bertault & David Helbock, Jazz

www.gambrinus.ch
www.kulturfabrik.ro