Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Peter Füssl · 16. Dez 2022 · Musik

Renee Benson & Jazzorchester Vorarlberg: Jazz-Oper „Leelah“ – LP- und Konzert-Tipp

Bereits im Frühjahr 2019 präsentierte das experimentierfreudige Jazzorchester Vorarlberg (JOV) unter der Leitung von Martin Eberle und Martin Franz ein neues Programm mit Kompositionen aus der Feder des Wiener Saxophonisten/Klarinettisten und Komponisten Vincent Pongracz. Dieser lotete auf höchst kreative Weise die Möglichkeiten dieses Klangkörpers aus und ...

... stellte die aus New Orleans stammende Sängerin und Rapperin Renee Benson aka Sista Raie in den Mittelpunkt des einstündigen Songzyklus „Story of Alice“. Mittlerweile hat sich daraus die zeitgenössische Jazz-Oper „Leelah“ entwickelt, die nun frisch gepresst als limitiertes Vinyl-Album erhältlich ist und im Rahmen von Präsentationskonzerten in Dornbirn und Wien auch live aufgeführt wird.

Vincent Pongracz und Renee Benson – wechselseitige Inspirationen ...

Vor Corona wurde das Programm auch zweimal beim Popfest Wien und bei der Jazzwerkstatt in Bern aufgeführt, erzählt JOV-Leiter Martin Eberle, der sich freut, dass das Projekt nun in einer neuen Auflage weitergeht: „Die Hauptakteure sind dieselben, auch die Stücke sind bis auf ein paar Details gleichgeblieben, allerdings konnte das Programm in der Zeit reifen, da wir es doch in verschiedenen Settings und auf verschiedenen Festivals spielen durften. Zudem werden wir auch ein paar zusätzliche Stücke aus der Feder von Vincent Pongracz spielen.“ Den 37-jährigen Wiener hält Eberle für „einen der interessantesten jungen Komponisten Österreichs, der es sehr gut versteht, die unterschiedlichsten Musikstile miteinander zu verbinden und vertrackte Grooves und skurrile Melodien bodenständig und gehörfällig klingen zu lassen.“ Zu den Mentoren von Pongracz zählt unter anderem auch Vienna Art Orchestra-Chef Mathias Rüegg, der ihn als Komponist, Arrangeur und als Instrumentalist gleichermaßen lobt.
„Jazz, zeitgenössische Klassik und Hip-Hop – diese drei Stilbegriffe sind auf jeden Fall tragende Wände in meinem musikalischen Haus. Vielleicht noch ein bisschen Elektronik und Imaginäre Folklore“, schildert Vincent Pongracz seinen musikalischen Background. Im Rückblick auf das Konzert in Hard erinnert man sich an permanente Rhythmuswechsel, stilistische Bocksprünge, schräge Harmonien, verblüffende Melodieentwicklungen und unkonventionelle Soundkonstellationen. Ist das Unerwartete sozusagen Programm bei Vincent Pongracz? „Der Schreibprozess war sehr intuitiv. Das ist das, was ich gehört habe und wie ich es gehört habe. Dahinter steckt nicht die Idee, ständig zu überraschen. Es ist eher das, was ich interessant finde. Wenn man gewisse Formen und Muster gewöhnt ist, klingt das vielleicht ungewohnt. Aus meiner Wahrnehmung ist das alles noch sehr zugänglich. Wenn ich wirklich überraschen wollte, würde ich das, glaube ich, noch mehr ausreizen.“ Tatsächlich geht die Musik trotz aller Komplexität erstaunlich leicht ins Ohr und ist höchst vergnüglich anzuhören: „Ich glaub, das Stichwort ist Freude. Und dass ich etwas schreiben wollte, das nicht allzu schwierig zu spielen ist und ins Ohr geht. Das Jazzorchester und Renee Benson haben von sich aus eine Freude am Spielen und setzen das Gefühl, das ich vermitteln wollte, auch auf musikantischer Ebene gut um.“
Tatsächlich spielt bei Pongracz oft auch eine humorvolle Komponente eine nicht unwesentliche Rolle: „Ja, das stimmt, Humor durch Absurdität. Aber auch Humor durch Ernsthaftigkeit. Guter Humor steht immer in Verbindung mit Wahrheiten oder Absurdem. Auch in der Musik, finde ich, müssen humorvolle Elemente mit vollster Ernsthaftigkeit präsentiert werden, damit sie wirken.“

„Leelah“ hat Vincent Pongracz in Kooperation mit der aus New Orleans stammenden Sängerin, Songwriterin und Poetin Renee Benson erarbeitet. Dass sich die beiden bereits sehr gut kannten – Benson hatte schon 2013 im Vincent Pongracz Synesthetic Octet mitgewirkt –, machte natürlich alles einfacher. „Renee hat die Texte geschrieben, aber ich war von Anfang an involviert. Wir haben gemeinsam die Idee entwickelt, und dann habe ich Renee ca. zwei Monate lang wöchentlich einmal Feedback gegeben. Die Zusammenarbeit ist uns sehr leichtgefallen und war sehr unbeschwert, ich glaube, wir haben uns im Prozess des Texteschreibens sehr gut ergänzt. Ich habe eine Art Lektor-Rolle übernommen. Renee hat für mich einen sehr unberührten, direkten und rohen Ausdruck, was mir sehr gefällt und mich immer wieder aufs Neue inspiriert. Gleichzeitig ist ihr Zugang, Texte zu schreiben, sehr assoziativ, teilweise fast schon dadaistisch. Ihre Texte rufen im Zusammenhang mit ihrer Performance bei mir sehr starke Bilder hervor. Sie ist eine unglaublich überzeugende Performerin und hat eine sehr starke und natürliche Bühnenpräsenz“, schwärmt Pongracz über das Multitalent.

... und eine wundervolle Zusammenarbeit im kreativen Dreieck Wien-New Orleans-Vorarlberg

Hört man Renee Benson, so beruhen Sympathie und Anerkennung ganz klar auf Gegenseitigkeit: „Ich bin ein Fan von Vincents Kompositionen seit wir uns vor vielen Jahren zum ersten Mal trafen. Er ist einer meiner absoluten Favoriten unter den Komponisten, und ich hüpfe jedes Mal vor Begeisterung, wenn er mich zur Zusammenarbeit oder zu Aufnahmen einlädt. (lacht) Aber tu mir den Gefallen und lass ihn das ja nicht wissen! Für ‚Leelah‘ haben Vincent und ich gemeinsam den Plot erarbeitet, wir haben jeden Song als eine Short Story innerhalb eines gesamthaften, übergeordneten Stückes betrachtet. Als wir vom Narrativ überzeugt waren, schrieb ich die Lyrics und verfeinerte sie anhand von Vincents Anregungen. Es war eine wundervolle Zusammenarbeit!“ 
Fragt man Renee Benson nach ihren musikalischen Vorbildern, erwähnt sie als erstes ihre Großmutter, die an allen möglichen und unmöglichen Orten gesungen hat, was gerade im Radio lief. Als Lieblingskomponistin und wichtigsten musikalischen Einfluss nennt sie Nina Simone: „Sie war eigentlich klassische Pianistin und musste singen, weil Frauen damals als reine Musikerinnen nicht ernst genommen wurden. Aber ihr Gehör funktionierte anders, weil sie nicht sang, um schön zu sein und bewundert zu werden. Sie sang, um jener Musik zu dienen, die sie bewegte. Ich höre sehr gerne, was die Leute nicht singen. Wenn sie Pausen machen oder ein bisschen danebensingen wegen des Gefühls. Das bietet einem Nina. Und Rachel Ferrell zeigte mir, wie man die eigenen Grenzen immer weiter vorantreibt. Mach‘ Sounds und nicht nur Lieder, sagte sie mir. Das ist es, was ich überall zu tun versuche, wo man mich lässt.“
„Leelah“ firmiert unter dem Label „a contemporary Jazz opera“. Gibt es so etwas wie eine Story, einen zugrundeliegenden Kontext, oder zumindest so etwas wie eine Schlüsselinspiration? Laut Renee Benson durchaus: „Die Story hat zwei unterschiedliche Ausgangspunkte. Der erste ist ein lustiger. Ich hatte das Vergnügen, während einer gemeinsamen Urlaubsreise ein Wochenende lang mit der kleinen Tochter einer guten Freundin abzuhängen. Sie wünschte sich von ganzem Herzen ein Spielzeug, und nachdem wir es angeschafft hatten, war ich erfreut, dass ich es mit ihr gemeinsam auspacken durfte. Aber direkt vor meinen Augen wandelte das Spielzeug seine Gestalt, denn die Voraussetzung für das Spiel war es, ein Geheimagent zu sein und herauszufinden, wie man Symbole und Hinweise dekodieren muss, um das Spielzeug endgültig öffnen zu können, und die darin verborgene, endgültige Überraschung zu entdecken. Ich werde dir jetzt nichts über diese Überraschung erzählen, aber wir brauchten viele Stunden für den Versuch, dieses Puzzle zu lösen. Der zweite Ausgangspunkt ist entfernt mit dem ersten verbunden. In den USA haben wir den Begriff ‚adultification‘, was so viel wie den frühzeitigen Sprung eines Kindes außerhalb der normalen Entwicklung hinein in die Verantwortlichkeiten oder Tätigkeiten eines Erwachsenen bedeutet. Ich überlegte mir, ob ‚Leelah‘ nicht vom Kampf, sich die Unschuld innerhalb einer modernen Welt zu erhalten, handeln könnte.“
Mit dem endgültigen Ergebnis dieser Kooperation ist Renee Benson jedenfalls ebenso glücklich, wie über die Zusammenarbeit mit dem Jazzorchester Vorarlberg: „Als ich das erste Mal das Team des Jazzorchesters Vorarlberg traf, war ich gerade von New Orleans aus mit allen möglichen Zügen, Flugzeugen und Autos angereist. Das war bei weitem die längste Reise meines Lebens, und ich bin schon auf einem 32-Stunden Trip durch die Ägäis gesegelt, weiß also, was lange Reisen sind. (lacht) Als ich den Raum betrat, warteten da die allerherzlichsten, lächelnden Gesichter, die ich seit Langem gesehen hatte. Und dann spielten sie, und mein Herz versank. Denn dieselbe Wärme fand ihren Weg in die Interpretationen von Vincents Partitur. Habe ich nicht ein Glück?“

Vielbeschäftigte Multitalente

Fragt man die Hauptbeteiligten von „Leelah“ nach ihren weiteren Aktivitäten in den kommenden Monaten, so bekommt man ein bisschen Gespür dafür, was denn trotz weltweiter, multipler Krisen im Musikbereich noch alles möglich ist.
Martin Eberle wird mit dem Jazzorchester Vorarlberg im Frühjahr 2023 das erste Live-Album mit 5/8erl in Ehr’n präsentieren, das letzten Sommer beim Glatt & Verkehrt Festival aufgenommen wurde. Es heißt „Live in der Wachau“ und wird im Rahmen der „Im Auge des Schmetterlings“-Tour im April/Mai in allen Bundesländern (auch zweimal in Vorarlberg) vorgestellt. Im Juli soll dann „petit mal“, eine Auftragskomposition für Phil Yaeger, mit der Vorarlberger Autorin Carolyn Amann beim Literaturfestival in Hohenems, aber auch im Kleinen Walsertal aufgeführt werden. Und für Ende Dezember bastelt Eberle gemeinsam mit Benny Omerzell bereits am nächsten JOV-Proramm. Auch der 2022 erstmals durchgeführte Workshop als Anlauf für ein JugendJazzOrchester Vorarlberg soll im kommenden Sommer nochmals durchgeführt werden.
Jenseits des JOV wird Martin Eberle als gefragter Trompeter mit 5KHD und Soap&Skin auf Tour gehen. Von Mai bis Oktober ist er wieder Teil des Ganymed-Ensembles im Kunsthistorischen Museum, und er hat einen Gastlehrauftrag für Komposition und Arrangement an der Musikhochschule für darstellende Kunst in Wien. Bis zum Jahresende wird Martin Eberle auch noch mit dem Pianisten/Posaunisten Martin Ptak die Duo-CD „Momentum“ (col legno) präsentieren, im Innsbrucker Treibhaus werden sie einen Doppel-Duo-Abend mit Mira Lu Kovacs und Clemens Wenger bestreiten. Eberle wird nächstes Jahr an Album-Produktionen diverser Formationen beteiligt sein, und es sind bereits Konzerte mit den Strottern & Blech, Kompost 3 und dem Vincent Pongracz Synesthetic Octet geplant.
Letzteres ist eine zentrale Formation von Pongracz, deren neues Programm am 26.3. im Wiener Konzerthaus uraufgeführt wird. Weiters schlüpft er in die exzentrische fiktionale Figur des Synesthetic Ivo, dessen Markenzeichen dadaistischer Rap und erfundene Wörter sind, mit denen er auf verschrobene und humorvolle Weise einen modernen musikalischen Nihilismus zelebriert. Mit diesem Projekt produziert er gerade das dritte Album. Und bei Synesthetic4, einem progressiven Jazz Quartett, das sich von Rap, zeitgenössischer Klassik und Neo-Dada inspirieren lässt, experimentiert Vincent Pongracz mit dem Material des letzten Albums „ahwowha“, um eine Version mit mehr Vocals zu erarbeiten.
Und Renee Benson hat gerade im Contemporary Arts Center in New Orleans ein Stück mit der von Jennifer Sargent geleiteten experimentellen Theatergruppe Vagabond Inventions fertiggestellt, in dem es um Trauer und Verlust geht. „Das war so experimentell, und ich arbeitete mit zwei Loop-Stationen. Das war so wild! Ich werde damit weiterarbeiten und hoffe im Frühjahr 2023 ein paar Soloarbeiten präsentieren zu können.“

Jazzorchester Vorarlberg feat. Renee Benson: Leelah
Mi, 28.12., 20.30 Uhr: Spielboden Dornbirn
Do, 29.12., 20.30 Uhr: Porgy&Bess Wien
www.spielboden.at
www.porgy.at