Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Florian Gucher · 13. Nov 2023 · Literatur

Ralf Schlatter: „Des Reimes willen Henk“

Mit O-Beinen durchs Leben

Der Titel „Des Reimes willen Henk“ steht modellhaft für das Werk: Im neuen Roman von Ralf Schlatter bestimmt die Form auch Inhalt und Handlung. Der Protagonist heißt wie er heißt, weil es der Rhythmus vorgibt, er lebt, leidet und liebt so, wie er es des Reimes willen tut. Schlatter hat sich ein Spielfeld abgesteckt, in dem er sich dichterisch, mit eng geschnürten Regeln, austoben kann. Das Buch wird so zur Spielerei, der es in erster Linie obliegt, Leichtigkeit in den Ernst des gegenwärtigen Alltags zu bringen.

Wie es der Zufall will

Ein eigentümlicher Protagonist steht an seinem fünfzigsten Geburtstag am Straßenrand und blickt zurück auf sein Leben, wartend auf ein Zeichen des Aufbruches. So beginnt der neue Roman in Versen von Ralf Schlatter. Und dieser erzählt zuerst in Rückblende von der Hauptfigur namens Henk, um dann gemeinsam mit ihm weiter zu ziehen und sich von ihm, den Reimen und der Sprache (ver)führen zu lassen. Vom Ausbruch aus dem Elternhaus und einer Reise zu sich – dem Motiv der Wanderung in Manier von Dantes „Divina Commedia“ folgend – treibt es Henk in eine Auffangstation für Vögel. Dort entfremdet er sich mehr und mehr von den Menschen, ehe er als Clown in den Zirkus stolpert. Stolpern ist das Stichwort, denn wie sich Henk durch die Welt bewegt, gleicht einem im Bann des Schicksals stehenden Balanceakt mit holprigem Ausgang. Am Ende sind es die Vögel, die ihm den Weg zurück in sein Dorf in die Manege weisen, direkt in die Arme seiner heimlichen Jugendliebe Trix. Die clownesk-tragische Figur landet tatsächlich mit roter Nase im Zirkus. Der Kreis schließt sich.

Von befreiter Unbekümmertheit

Der Schweizer Autor Ralf Schlatter zeigt sich in diesem Roman von der verspielten Seite. Dass er Kabarettist ist, kommt in diesem Werk durch. Tragikomik ist das Schlagwort, das Verbinden von Leichtigkeit mit einer nicht ernst zu nehmenden Schwere sein Grundtenor. So ist es kein Zufall, dass das Buch von einer schwierigen Kindheit mit verstummter Mutter und betrügendem Vater ausgeht und Tod, Leid und Kummer nicht ausspart. Die Geschichte trägt melancholische Züge in sich, wären da nicht die gewitzte Sprache und die Wortspielereien, die die Erzählung zum heiteren Märchen machen. Die Selbstironie des Erzählers ist Mittel zum Zweck. Mal manövriert dieser sich selbst ins Geschehen, dann wiederum zeigt er, dass er den Fortlauf des Geschehens in den Händen hält, oder aber den Reimen ausgeliefert ist. Schlatter habe nach intensiver Arbeit an seinem vorangegangenen Buch „Muttertag“, einem belastenden Familienthema, daran gelegen, etwas zu schreiben, das Freude mache, wie er selbst sagt. In mancher Hinsicht liest sich das Buch doch wie eine Fortsetzung der Themen seiner früheren Werke. Das unglückliche Elternhaus, ein Held auf der Suche nach dem Glück, die Reise, die Liebe und die Destinationen des Lebens – der Autor bleibt seinen Motiven treu, wenngleich sich der Zugang verändert hat. Während er sich in „Muttertag“ mit 16-stündiger Wanderung der Hauptfigur zur sterbenden Mutter schreibend von der Last befreite, konnte er nun unbeschwerter zu Werke gehen. Schlatter begleitet seinen Helden nun gewissermaßen aus freien Stücken: „Wo die Idee herkam, weiß ich nicht mehr. Die Prosa schien mir für dieses Unternehmen zu uferlos. Ich mochte die strikte formale Vorgabe eines Romanes in Reimen. Sie gab mir Halt. Es ging mir darum, Linien zu ziehen, zwischen denen ich frei rumspielen kann“, so der Autor.

Ein Taugenichts mit Smartphone

Dass Schlatter das Feld nach eigenem Ermessen ausspielt, zeigt sich mit Blick auf versteckte Referenzen. Da blinken Dichter und Denker wie Morgenstern, Busch, Eichendorff, Beuys und Kant auf. Kants „Ratio“ findet sich im Reimschema eingebettet ebenso wie Beuys berühmtes Zitat „Ich denke mit dem Knie“ als künstlerischer Kontrapunkt zum logisch-rationalen Denken. Von Anspielungen auf den lustig heiteren Papageno über Händels „Totenarien“ bis zur Rock-Ikone Tom Petty liest sich der Roman wie eine Symphonie des Lebens mit all seinen Seiten. Dazwischen finden sich Zirkusszenerien á la Marc Chagall als Verweis auf dessen berühmte Zirkusbilder, hier in Form des verliebten Protagonistenpaares Henk und Trix, des unbeholfenen Clowns und der wackeren Seiltänzerin. Auch Märchenmotive – ein toter Rabe, Gaben ans Grab bringende Vögel, ein Baum voller Pflaumen, der vor dem Hungertod rettet oder sieben das Unglück ankündigende Raben – finden sich zuhauf: „Also. Henk, der schleppte sich zur Quelle, soff wie ein Kamel, dann schlug er sich mit Pflaumen seinen Magen voll, erteilte sich gar heldenhaft den Weitermarschbefehl, bis – ach, ihr ahnt es – das verdiente Mahl im Magen quoll“, so ein Zitat aus dem Buch. An manchen Stellen erinnert der Plot an die Grimm’schen Märchen, obgleich die Figuren nie ins Schablonenhafte rutschen. Daneben ziehen sich ornithologische Metaphern als Vorboten von Wendepunkten durch. Parallel dazu treiben innere Läuterung und Reisemotive den Handlungsstrang an, sowie dieser sich in die Tradition bewährter Adoleszenzromane einreiht. Was an Simplicissimus, Taugenichts & Co erinnert, ist hier in eine moderne Story verpackt. Nicht nur das hippe Figurenpersonal verfrachtet den Roman ins Hier und Jetzt, auch sprachlich sickert eine jugendliche Frische durch. Man denke an einen Punk, der Henk zur Ornithologie führt. Man denke aber auch an Szenen, die die Gräben der Gesellschaft humorvoll auf den Punkt bringen: Mal schlägt sich Henk wortwörtlich als Quertreiber durch eine Klimademonstration durch, mal wird er splitterfasernackt, einzig mit einem Demoschild vor den Intimbereich, selbst für einen Klimaaktivisten gehalten. Der Genderstern blinzelt hindurch, das Insta-Leben der heutigen Generation spiegelt sich als Seitenhieb im uniformellen Sneaker-Style für Likes wider. Allgemeingültige Fragen wie Diskurse um Wahrheit und Lüge runden das Werk ab.
Gegensätze ziehen sich an: Eigentlich sind sich der schlaksige Henk und die etwas bummelige Trix mit roten Bäckchen nicht unähnlich. Was für Henk die Ornithologie ist, ist für Trix das Zirkusleben. Das unstete Leben des Protagonistenpaares wird vom Autor auf eine symbolische Ebene gebracht. Nebenbei bettet Schlatter eine verwickelte Liebesgeschichte mit ein. Hier erreicht der überspitzte Humor den Höhepunkt: Weil Henk und Trix paradoxerweise die Kinder der inzwischen fremdgehenden Nachbarsleute – Henks Vater und die Mutter von Trix – sind, wirkt ihr Liebesverhältnis auf den ersten Blick skurril. Gerade das initiiert aber, dass sich die beiden mit der Vergangenheit aussöhnen können. Der Roman ist als innere Läuterung angelegt, die sich aufbauscht und am Ende auf zahlreichen Umwegen ihr glückliches Ende erfährt. Abermals ist es Chagall mit diesmal umgedrehtem Bild, mit dem Schlatter das Geschehen einfriert. Zu sehen: Ein wacker stehender Henk, der seine vom Seil gefallene Heldin, wie es der Zufall so will, in artistischer Hochglanzmanier in den Armen auffängt.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR November 2023 erschienen.

Ralf Schlatter: „Des Reimes willen Henk“ – Roman in Reimen. Limbus Verlag, Innsbruck 2023, 112 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3990392386, € 18