Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Ingrid Bertel · 26. Sep 2023 · Literatur

Peter Eigner: „Die Wittgensteins“

Die Geschichte einer unglaublich reichen Familie

Welche Eigenschaften braucht einer, um in wenigen Jahren so stinkreich zu werden wie Elon Musk? Welche Begabungen, um Karriere wie Jeff Bezos zu machen? Gehört dazu auch ein bizarres Sozialverhalten, wie es Marc Zuckerberg an den Tag legt, wenn er Elon Musk zu einem Mixed Martial Arts Käfigkampf herausfordert? Strebt so einer unweigerlich nach politischer Macht wie Peter Thiel, der die Demokratie Richtung Herrschaft der Tech-Milliardäre umbauen will?

Mit gebührend abkühlender Distanz lassen sich solche Fragen am Beispiel der Familie Wittgenstein, die einst zu den reichsten Europas zählte, überlegen. Peter Eigner widmet ihr ein Portrait, das nicht zufällig den Fokus auf den Stahl- und Eisenmagnaten Karl Wittgenstein legt, eben jenen Mann, der den sagenhaften Reichtum der Wittgensteins anhäufte.

Rebellion

Gerne stellte sich Karl Wittgenstein als Selfmademan dar, als ein Rebell, der schon mit elf Jahren zum ersten Mal von zu Hause ausriss. Mit siebzehn verschwand er für zwei Jahre in die USA mit nichts im Gepäck als seiner Geige. Er schlug sich eher mühsam als Kellner durch, kehrte reumütig zurück, holte die Matura nach und machte eine Ausbildung zum technischen Zeichner. Das war damals ein ganz neuer Beruf, und an Neuerungen war Karl Wittgenstein ein Leben lang interessiert. Sie waren ein bestimmendes Element seines sozialen Aufstiegs. Selfmademan war er trotzdem nicht.
Er kam aus einem sehr wohlhabenden Haus. Sein Vater Hermann hatte die heruntergewirtschafteten Güter der Familie Esterházy saniert, was sich für ihn als Goldgrube erwies. Er investierte in Landgüter und Immobilien, wollte aber keiner der „Ringstraßenbarone“ sein und lehnte den ihm angebotenen Adelstitel ab. Da sein Großvater Gutsverwalter der Familie Sayn-Wittgenstein gewesen war, kursierte in Wien bald das Scherzwort von den „Haben-Wittgenstein“ und den „Sayn-Wittgenstein“. Hermann Wittgenstein setzte auf Assimilation. Er trat zum Protestantismus über. Seinen elf Kindern untersagte er Heiraten mit jüdischen Partner:innen.
Die Verbindung seines Sohnes Karl mit Leopoldine Kallmus sah er nicht gern. Sie war zwar katholisch erzogen, stammte aber aus einer Prager jüdischen Familie. Mit Karl verband die begabte Pianistin die Liebe zur Musik – beim gemeinsamen Musizieren hatte sich das Paar kennengelernt. Als Karl und Leopoldine heirateten, war Karl arbeitslos, und so konnten die beiden ihre Liebe in vollen Zügen genießen.

Umbruch

„Die Eisen- und Stahlproduktion der Monarchie befand sich in einem gewaltigen Umbruch“, schreibt Peter Eigner. „Revolutionäre technische Innovationen und neue Verfahren bewirkten rasche Veränderungen. Die Jahrhunderte lang so bedeutende Kleineisenindustrie erfuhr einen rasanten Niedergang.“ Und zwar auf Grund des Bessemer-Verfahrens, das Massenstahlproduktion ermöglichte. Karl Wittgenstein führte es ein, zunächst beim Teplitzer Walzwerk. Seine umstrittene Kartellierungs- und Hochpreispolitik ermöglichte ihm nach und nach die Übernahme der Böhmischen Montan-Gesellschaft, der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft und der Alpine Montangesellschaft. 1890 stieg er in den Maschinenbau ein. Die nach seiner Frau benannte „Poldihütte“ produzierte Kurbelwellen für Schiffsmotoren, Autos und Flugzeuge.
Karl Wittgenstein knüpfte ein enges Netz von Beziehungen – etwa zu Paul Hammerschlag, der den Verband der österreichischen Banken und Bankiers gegründet hatte. Seinen Aufstieg begleiteten aber auch Arbeitskämpfe, die sich stetig intensivierten, vor allem in seinen Kohlegruben. „Er war ein Mann aus Eisen, und stahl“ formulierte Karl Kraus in Abwandlung einer Redensart. Karl Wittgensteins spektakuläre Erfolgsgeschichte währte nur kurz. „Die Übernahme der Alpine hatte das Feindbild Wittgenstein in Teilen der Presse noch verstärkt“, und die sparte auch nicht mit antisemitischer Hetze. 1897 trat Wittgenstein eine Weltreise an, danach zog er sich von allen Geschäften zurück.
Das geschah konfliktfrei. Wittgenstein forderte die Auszahlung einer geheimen Spezialreserve der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft. Dagegen wehrte sich die Creditanstalt – allerdings vergeblich, denn er saß in deren Verwaltungsrat. Den Erlös seiner Industrieverkäufe transferierte er in die Schweiz, die Niederlande und die USA; er investierte in Immobilien, Aktien und Anleihen. So überstand sein Vermögen sowohl den Ersten Weltkrieg als auch die Zeit der Wirtschaftskrise. „Während der dem Ersten Weltkrieg folgenden Hyperinflation konnte das Vermögen durch eine geschickte Anlagenpolitik sogar noch weiter vergrößert werden.“ Mit einem Vermögen von geschätzt 200 Millionen Kronen gehörte er jedenfalls zu den Superreichen.

Weltfremdheit

Peter Eigner beschreibt Karl Wittgenstein als einen Hasardeur mit zumeist glücklichem Händchen und einem hohen Fachwissen; er bescheinigt ihm einige Skrupellosigkeit (gegenüber den Arbeitern) und ein ausgeprägtes Talent als Netzwerker. Also Eigenschaften, mit denen auch die heutigen Tech-Milliardäre ausgestattet sind. Und wie war Karl Wittgenstein als Privatmann?
„Als Vater hat er vollständig versagt“, bemerkte die Tochter Margarethe. „Zärtlichkeit, Wärme und Gemütlichkeit gab es bei uns nicht.“ Rebellion, Depression und Suizid prägten das Leben der acht Wittgenstein Kinder. Die älteste Tochter, Hermine, attestierte sich und ihren Geschwistern „eine gewisse Weltfremdheit und wohl auch Arroganz“. Die Weltfremdheit resultierte auch daraus, dass die Kinder vom Alltag anderer Menschen nicht viel mitbekamen. Sie wurden von Privatlehrern unterrichtet und von der Kinderfrau Elis, die 21 Jahre lang ein strenges und liebloses Regiment führte, betreut und die „Kinder weder beschäftigte noch erzog, ja nicht einmal körperlich gut pflegte“, so Hermine.
Am ehesten entsprach noch die Tochter Helene, genannt „Lenka“, den elterlichen Vorstellungen. Sie heiratete mit 20 ihren Cousin Max Salzer, einen Beamten im Finanzministerium, der dessen Sektionschef wurde und mit dem sie vier Kinder hatte. Musik war ihre Leidenschaft wie die aller Wittgenstein-Kinder, denn im Elternhaus wurde auf hohem Niveau musiziert. Die Komponisten Johannes Brahms und Gustav Mahler waren häufig zu Gast, ebenso der Dirigent Bruno Walter. Clara Schumann spielte auf dem Bösendorfer Karl Wittgensteins, die Geigerin Marie Soldat auf seiner Stradivari, Pablo Casals auf seinem Cello von Ruggiero.

Suizid

Hermine war es, die die Eltern auf die Künstler der Secession hinwies. Unter ihrer Anleitung wurden sie zu bedeutenden Sammlern. Gustav Klimt malte Margarethe anlässlich ihrer Verlobung mit Jerome Stonborough. Die Einrichtung der diversen Villen und Landgüter bestritt Joseph Hoffmann. Doch künstlerische Arbeit zum Beruf zu machen, schien Karl Wittgenstein absurd. Das verkündete er mit aller Härte seinem Sohn Hans, der seit frühester Jugend nur Musik im Kopf hatte. „Er blätterte in Partituren wie andere in Bilderbüchern“, so Hermine in ihren Familienerinnerungen. Und Peter Eigner: „Hans wollte sich ganz der Musik widmen, wofür er vom Vater nur Unverständnis erntete, und komponierte aus Angst vor dem Vater heimlich im Keller, vor dem seine Schwester Margarethe Wache hielt.“ Als sein Karl Wittgenstein darauf besteht, dass Hans Karriere in der Industrie machen soll, flüchtet er – wie 30 Jahre zuvor sein Vater – nach Amerika. Während einer Kanufahrt in der Chesapeake Bay zwischen Virginia und Maryland verschwindet er spurlos. In der Familie vermutet man Selbstmord.
Zwei Jahre später folgt der nächste Schicksalsschlag: Rudi, der in Berlin studiert, betritt ein Restaurant, bestellt das Lied „Verlassen, verlassen, verlassen bin ich“ und nimmt in aller Öffentlichkeit Zyankali. Diesem Selbstmord waren Gerüchte über Rudis Homosexualität vorangegangen. Er hatte sich für die Abschaffung des Paragrafen 175, der „Unzucht zwischen Männern“ unter Strafe stellte, engagiert. Die Reaktion von Karl Wittgenstein ist für seine Frau und die Kinder eine weitere Katastrophe: „Er verfügte, dass niemand, weder seine Frau noch andere Verwandte, in Zukunft in seiner Gegenwart den Namen Rudis, der die Ehre der Familie „geschändet“ habe, erwähnen dürfte.“
Immerhin ändert er sein Verhalten: Die beiden jüngsten Söhne, Paul und Ludwig dürfen nun öffentliche Schulen besuchen, um Beziehungen zu Menschen außerhalb der Familie aufzubauen. Dass auch ein dritter Sohn, Kurt, Selbstmord begeht, muss Karl Wittgenstein nicht mehr erleben.

Rebellion

Paul konnte seinen Wunsch, Pianist zu werden, beim Vater durchsetzen. Im August 1914 aber – Paul war als Soldat eingerückt – zerschmetterte eine Kugel seinen Ellbogen. Während sein Arm im Lazarett amputiert wird, nehmen russische Truppen die Stadt ein. Paul wird in ein Gefangenenlager in Sibirien gebracht. Er lernt mit eisernem Willen nicht nur, sich selbst anzuziehen und zu waschen, sondern auch Klavier zu spielen. Als einarmiger Pianist erlebt er nach dem Krieg eine glanzvolle Karriere. Und dank seines Vermögens kann er Kompositionsaufträge an die größten Meister vergeben, an Paul Hindemith, Erich Wolfgang Korngold, Richard Strauß, Sergej Prokofjew oder Maurice Ravel.
„Der neueste Witz über Dollfuß ist, dass er einen Unfall gehabt hat“, schreibt Margarethe ihrem Bruder. „Er ist beim Ribiselpflücken von der Leiter gefallen.“ Das fand Paul nicht lustig; seine politischen Ansichten waren reaktionär – die seiner Schwester sozialdemokratisch. Margarethe war nach dem Tod ihres Bruders Hans förmlich in die Ehe mit dem New Yorker Industriellen Jerome Stonborough geflüchtet. Gemeinsam war den beiden ihre Leidenschaft für Medizin und Naturwissenschaften. Sonst aber nicht viel. Sie ziehen ruhelos durch Europa – von Berlin nach Zürich, Paris, London, Wien. Margarethe beginnt Physik und Mathematik zu studieren. Einen Beruf ausüben darf sie nicht. Jerome erweist sich als krankhaft eifersüchtig (während er selbst ständig Affairen hat). Er leidet unter Depressionen und Verfolgungswahn und auch er nimmt sich das Leben.

Depression

Ludwig, der Jüngste, von den Geschwistern „Lucky“ oder „Herzenslukerl“ genannt, zeigt zunächst vor allem technisches Interesse. Als Student an der Universität Manchester konstruiert er einen Flugzeugantrieb, bei dem die Brennkammern an den Blattspitzen des Rotors angeordnet sind. So benötigt man kein Getriebe und keinen Heckrotor und kann leichter und billiger bauen. Er lebt auf großem Fuß und versteuert ein Jahreseinkommen von über 237.000 Kronen. Zum Vergleich: Ein Mittelschulprofessor verdiente 2.800 bis 3.300 Kronen. Ludwig Wittgenstein wird sich in den 1920er Jahren mit einem Volksschullehrergehalt zufriedengeben. Erst aber schließt er in Cambridge ein Philosophiestudium ab und verliebt sich in den Mathematiker David Pinsent. 1914 meldet er sich als Kriegsfreiwilliger und wird an der russischen Front eingesetzt. Er arbeitet während des Krieges am „Tractatus“ (seiner bis heute wohl bekanntesten philosophischen Schrift) und schließt Freundschaft mit dem Architekten Paul Engelmann, der bald ein enger Freund auch seiner Geschwister wird. Paul Engelmann löst Joseph Hoffmann als Architekten der Familie ab. Er renoviert die Villa in Neuwaldegg, das Familienpalais in der Argentinierstraße und gestaltet einen Ausstellungsraum für Pauls Porzellansammlung.
Ludwig vertieft sich als Soldat in die Lektüre von Tolstoi. „Er wurde von den Soldaten ‚der mit dem Evangelium‘ genannt, weil er immer Tolstois Bearbeitung der Evangelien bei sich trug“, erinnert sich seine Schwester Hermine. Als sein Freund David Pinsent bei einem Flugunfall ums Leben kommt, denkt er an Suizid. Seinen „Tractatus“, der 1921 erscheint und von der Fachwelt gefeiert wird, widmet er dem geliebten Freund.
„Luki hat sein ganzes Gerstl an Mining, Lenka + Paul verschenkt + ist Volksschullehrer geworden“, schreibt Margarethe in ihr Tagebuch. Als Ludwig im August 1919 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrt, verschenkt er sein Vermögen an die Geschwister. Er will ein Leben in Tolstoischer Strenge und Einfachheit führen, und zwar als Volksschullehrer. Im September 1920 tritt er eine Stelle in Trattenbach an, in den Jahren darauf unterrichtet er in weiteren niederösterreichischen Dörfern. Er verbietet seinen Geschwistern, ihn zu besuchen, weil er inkognito bleiben möchte, was bei ihnen für Kopfschütteln sorgt. Paul schreibt ihm ganz pragmatisch: „Bei der unglaublichen Bekanntheit unseres Namens, dessen einzige Träger in Österreich wir sind … ist es ausgeschlossen, wirklich vollkommen ausgeschlossen, dass ein Mensch, der unseren Namen trägt, und dem man die vornehme und feine Erziehung auf tausend Schritte ansieht, nicht als Mitglied unserer Familie erkannt wird.“

Antisemitismus

Natürlich hatte Paul recht. Als problematisch erwies sich aber auch Ludwigs cholerische Veranlagung. Als Kind hatte er die schwarze Pädagogik seines Vaters durchlitten. Der pflegte seine Sprösslinge an den Ohren emporzureißen. Blieben sie stumm, hieß es „hochgeboren“, schrien sie auf vor Schmerz, lautete das Urteil „nichtgeboren“. Ludwig seinerseits riss die Kinder an den Haaren, watschte ein Mädchen so ab, dass es aus den Ohren blutete, und als er einen elfjährigen Buben so auf den Kopf schlug, dass er ohnmächtig wurde, war’s das mit seiner Lehrerlaufbahn. Es war Margarethe, die ihn aus einer Krise rettete, indem sie ihm anbot, zusammen mit Paul Engelmann ihren neuen Wohnsitz zu entwerfen. Das heute „Haus Wittgenstein“ genannte Gebäude wurde zu seiner Leidenschaft. Nach seiner Fertigstellung kehrte er als Lehrender an die Fakultät von Cambridge zurück. Seine jüdische Herkunft verleugnete er.
Waren die Wittgensteins Antisemiten, wie immer wieder behauptet wird? Nein, betont Peter Eigner, aber sie teilten die gängigen Vorurteile gegenüber Juden, und die alarmierenden Vorzeichen des März 1938 sah keines der Geschwister. Nachträglich notierte Hermine: „So verblendet waren wir, dass sich niemand von uns die Mühe nahm, die Nürnberger Gesetze überhaupt anzusehen.“
Für den sogenannten „Ariernachweis“ ließen sie sich Millionen abpressen. Der finanzielle Reichtum war vorbei, der Reichtum an außerordentlichen Begabungen hatte die jüngere Generation ausgezeichnet, und als nach Hermines Tod das von Bombentreffern gezeichnete Familienpalais in der Argentinierstraße abgerissen wird, steht dieser Akt symbolisch für das Ende einer Ära.

Peter Eigner: Die Wittgensteins. Geschichte einer unglaublich reichen Familie. Molden Verlag, Wien 2023, 336 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-222-15082-1, € 40