Neu in den Kinos: „The Zone of Interest“
Darf man einen Film darüber drehen, wie Hedwig Höß, Frau des Auschwitz-Kommandanten, sich hinter der Mauer des Vernichtungslagers ein privates Paradies schafft? Zwischen Blumenbeeten und Brombeersträuchern wacht die „Königin von Auschwitz“ über ihr Familienidyll. Neun Jahre lang hat Regisseur Jonathan Glazer an seinem Film über die viel zitierte Banalität des Bösen gearbeitet.
Am Wochenende unternimmt die Familie einen Badeausflug zum nahen Fluss. Es ist ein heißer polnischer Sommer, die Schwüle und die Insekten am Ufer sind förmlich zu spüren. Als es Abend wird, gehen die Eltern und ihre Schar Kinder zurück zu einer ordentlich geschotterten Straße und fahren in einem großen schönen Wagen nach Hause. Eines der Kinder ist müde, man stimmt ein deutsches Wiegenlied an. „Schlaf, Kindlein, schlaf“ hat eine beruhigende Wirkung und verspricht eine heile Welt. Die Familie Höß ist in Auschwitz angekommen.
„The Zone of Interest“ ist einer der beeindruckendsten Filme über den Nationalsozialismus seit vielen Jahren. Es ist kaum vorstellbar, dass ein solcher Film in Deutschland oder Österreich entstehen hätte können. Geschrieben und inszeniert hat ihn denn auch der britische Regisseur Jonathan Glazer in Polen mit dem überragenden deutschen Hauptdarstellerpaar Christian Friedel („Elser“) und Sandra Hüller („Anatomie eines Falls“). Glazer hat die kontrovers diskutierte Vorlage des britischen Schriftstellers Martin Amis weniger adaptiert als umgeschrieben, geblieben ist der englische Titel als Übersetzung des von den Nazis euphemistisch als „Interessengebiet“ bezeichneten Sperrgebiets um Auschwitz. „The Zone of Interest“ blickt kein einziges Mal hinter die Tore des Vernichtungslagers.
Hübsches Reich
Stattdessen nimmt am Morgen nach dem Ausflug das Leben der Familie Höß seinen gewohnten Gang. Rudolf Höß ist ein liebevoller Familienvater, mit dem ältesten Sohn unternimmt er regelmäßige Reitausflüge. Heute allerdings feiert er Geburtstag und bekommt im Garten vor dem zweistöckigen Haus ein Ruderboot geschenkt, in das sich das jüngste der fünf Kinder zuerst hineinsetzen darf. Danach müssen die älteren Kinder in die Schule, der Lagerkommandant verlässt das Haus, während seine Frau Hedwig („Der Rudi nennt mich die Königin von Auschwitz“) andere Offiziersfrauen in der Küche empfängt und ihre unbezahlten polnischen Hausmädchen befehligt. Ihr ganzer Stolz ist jedoch ihr riesiger Garten mit Gemüsebeeten, umgeben von duftenden Blumen und Sträuchern, in dessen Mitte sich ein kleiner Swimmingpool befindet. Sogar eine Holzrutsche für die Kinder wurde errichtet. Im Hintergrund schmiegt sich ein Gewächshaus an die Steinmauer. Dass hinter dieser immer wieder Schüsse fallen und Todesschreie zu hören sind, scheint im Rosengarten niemanden zu stören. Daran hat man sich in der Idylle längst gewöhnt.
Glazer zeigt keine Bilder aus dem Konzentrationslager, von Insassen und von brutalen SS-Offizieren. Der einzige Häftling ist ein Mann, der mit einer Schubkarre Gegenstände vor dem Haus der Familie Höß ablädt. Pelzmäntel, Wertgegenstände. Wenn Hedwig einen guten Tag hat, dürfen sich die Angestellten jeweils ein Kleid aussuchen. Selten sieht man die angrenzenden Wachtürme hinter der Gartenmauer sowie Schornsteine in der Ferne in den Himmel ragen, der dann eine rote Färbung annimmt. Das ist der Lichtschein der Öfen.
Eine dramatische Wendung erfährt diese Schilderung eines schrecklich bizarren Alltags schließlich, als Höß nach Oranienburg versetzt werden soll, um die Deportation ungarischer Juden in die Vernichtungslager zu organisieren – und damit für Hedwig ihre heile Welt zusammenbricht. Denn diese existiert für sie nur innerhalb der Gartenmauer, inmitten der Beete und Blumen, weshalb sie sich weigert, ihr „Traumreich“ zu verlassen. Zumindest bis die Familie nach dem Krieg, „wenn alles vorbei ist, so wie wir es immer gesagt haben“, einen Bauernhof bewohnen kann. Hedwig hat das sie umgebende Grauen perfekt verdrängt und einen ebenso perfekten Traum wahr werden lassen.
Flocken fallen still
In einem Interview gab Jonathan Glazer an, dass „wir uns fürchten, in den Tätern ganz normale Menschen zu sehen“. Das erinnert natürlich an Hannah Arendts vielzitierte „Banalität des Bösen“ anlässlich des Eichmann-Prozesses. Doch „The Zone of Interest“ interessiert sich für eine andere Form der Banalität, wenngleich in einer der ersten Szenen die aus Berlin angereisten Ingenieure Höß erklären, wie mittels Rotation der Kammern ein Dauerbetrieb in Auschwitz möglich sei. Den üblichen Vorwurf des Holokitsch wird sich Glazer, weil er das Grauen nicht völlig ausblendet, dennoch gefallen lassen müssen („an extreme form of Holokitsch“, urteilte bereits der „New Yorker“). Doch der standardmäßige Einwand greift hier zu kurz: Glazer beschreibt weniger die ungeheuerliche Banalität des Bösen als den scheinbar normalen Umgang mit ihr im Alltag – und hat ausgerechnet im Subgenre der sogenannten Holocaust Fiction (demnächst als Serie: „Der Tätowierer von Auschwitz“ mit Harvey Keitel) damit das Fiktive gelöscht, ohne einen Dokumentarfilm gedreht zu haben. Und er fügt dem längst banal gewordenen Bild vom Massenmörder und liebevollen Vater eines hinzu, das diesen nahezu ausschließlich auf letztere Rolle beschränkt. Ob das unsere Furcht, „in den Tätern ganz normale Menschen zu sehen", größer werden lässt, sei dahingestellt. Geringer wird sie dadurch nicht.
Umso verstörender wirken denn auch die Brüche mit der dokumentarischen Ästhetik: von einem minutenlangen Schwarzbild zu Beginn über den enervierenden Score von Mica Levi und eine an das Technicolor der Vierzigerjahre erinnernde Farbsättigung bis hin zu den mittels Wärmebildkamera entstandenen Aufnahmen eines Mädchens, das in der Nacht durch das Gelände von Auschwitz streift und heimlich Äpfel für die Insassen hinterlässt. Und dabei versteckte Notenblätter von Josef Wulf findet: „Weiße Schneeflocken fallen still und sanft auf die schwarze Welt, die schläft / Und wir hier Eingesperrten wachen wie Sterne in der Nacht.“
Hedwig Höß, geborene Hensel, starb 1989 während eines Besuchs bei ihrer Tochter in den USA. Rudolf Höß wurde 1947 auf dem früheren Lagergelände des KZ Auschwitz neben seinem ehemaligen Wohnhaus gehängt.