Neu in den Kinos: „Napoleon“
Ridley Scott inszeniert sein Historienepos über den französischen General und Kaiser als spektakuläres Schlachtengemälde und tragisches Biopic über eine unglückliche Liebe. Nach zweieinhalb Stunden kennt man Napoleon immerhin als eifersüchtigen Trotzkopf, von dem man nicht weiß, weshalb er Weltgeschichte schrieb.
Endlich schreibt Napoleon Geschichte. Er steht vor einem Sarkophag, den man vor ihm aufgestellt hat und lässt den Deckel entfernen. Natürlich darf der General, der eben Ägypten erobert hat, beim Anblick der Mumie nicht mit der Wimper zucken. Im Gegenteil beugt er sich ganz nach vorne und legt sein Ohr an ihren Mund, als könnte er den Atem vergangener Zeiten spüren. Ist er wie Caesar und Alexander der Große, die vor ihm das Land am Nil unterworfen haben, ebenfalls dazu bestimmt, über ein Weltreich zu herrschen? Doch kann eine Mumie, wenn man sie anfasst, auch zu Staub zerfallen.
Diese Szene aus Napoleons Ägyptenfeldzug, knapp hundert Jahre später auf einem Gemälde festgehalten und von Ridley Scott präzise nachgestellt, dauert in „Napoleon“ nur wenige Augenblicke, die gesamte militärische und wissenschaftliche Expedition samt schwerem Kunstraub immerhin einige Minuten. Doch in einem Biopic wie diesem sind derartige Augenblicke, wie Ridley Scott als Regieveteran („Alien“, Gladiator“) sehr gut weiß, von größter Bedeutung: Sie konzentrieren die Geschichte der Mächtigen wie unter dem Brennglas auf einen einzigen Moment. Weshalb Scott seinen 158-minütigen Film als szenische Aneinanderreihung geschichtsträchtiger Momente inszeniert: Napoleon in der Menge bei der Enthauptung Marie Antoinettes. Napoleon auf einem Esel vor den Mauern von Toulon. Napoleon auf dem Feldherrnhügel in Austerlitz. Napoleon bei der Selbsternennung zum Kaiser und im niedergebrannten Moskau. Napoleon am Strand von Elba, im verregneten Waterloo und zuletzt an einem kleinen Holztisch auf St. Helena. Und dazwischen immer wieder Szenen einer Ehe mit Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby), jener Frau, die er eifersüchtig liebte und von der er sich dennoch scheiden ließ, weil sie ihm keinen Erben gebar.
Kanonenkugel im Pferd
„Mich plagen keine armseligen Selbstzweifel“, verkündet der General und Konsul, als das nach der Revolution eingesetzte Direktorium dem uneingeschränkten Herrschaftsanspruch des Korsen weichen muss. Doch Joaquin Phoenix, für diese Rolle auffällig zu alt, interpretiert Napoleon als unberechenbaren Sonderling, der seine Zweifel nur durch unbändige Rastlosigkeit beseitigen kann. Napoleon wird derart nicht zum machtbesessenen Usurpator, sondern zu einer undurchsichtigen Figur, mit der selbst die Filmerzählung kaum Schritt halten kann. So wie die europäischen Adelshäuser, die zwar regelmäßig gegeneinander Krieg führen, aber den gemeinen Emporkömmling gemeinsam verachten. Und ganz zu schweigen von Ridley Scott, dessen Blick auf die historische Ausnahmefigur seltsam vage, mitunter gar ironisch-spöttisch bleibt. Zwar verfolgt der Film in wenigen Ausschnitten Napoleons weitreichende militärische und politische Karriere – schulmäßig verweisen Texttafeln auf historische Zäsuren und wichtige Schlachten –, doch Scott möchte offensichtlich alle gängigen Zuschreibungen unter einen Zweispitz bringen: brillanter Taktiker, genialer Stratege, brutaler Egomane, ungehaltener Rüpel, Befreier des Pöbels und Totengräber der Royalisten.
Doch in Wahrheit interessieren sich Scott und Drehbuchautor David Scarpa für das europäische Ränkespiel der Koalitionskriege ebenso wenig wie für die gesellschaftspolitischen Umwälzungen durch die Republikaner oder für das vielseitige Interesse Napoleons vor allem an Naturwissenschaften. Das hauptsächliche Interesse dieses Films gilt der Bildgewalt der Schlachten, inszeniert in der für Scott typischen Ästhetik verwaschener Gemälde und mit stakkatoartiger Gewalt. Die Kanonenkugel, die dem zu Beginn in die Schlacht von Toulon stolpernden Napoleon die Brust seines Pferdes zerfetzt, bringt er seiner Mutter mit nach Hause. „Napoleon“ ist nicht „das Waterloo eines großen Regisseurs“ (© Frankfurter Allgemeine Zeitung), aber ein unentschlossener Film, der wie seine ambivalente Heldenfigur an seinem unbedingten Willen zur Größe scheitert.
Weltminuten für die Ewigkeit
Eine gern erzählte Legende besagt, dass Stanley Kubrick seinen Napoleon-Film nicht zu Ende brachte, weil er dem Stoff trotz oder eben aufgrund seiner obsessiven Arbeitsmethode nicht bewältigen konnte; ein Projekt, dass Steven Spielberg seit zehn Jahren nun als mehrteilige HBO-Serie verwirklichen will, für die Kubricks bereits geschriebenes Skript als Grundlage dienen soll. Ridley Scott wiederum hat angekündigt, seinen zweieinhalb Stunden einen um weitere zwei Stunden verlängerten „Director‘s Cut“ hinzuzufügen (zu sehen dann auf dem bereits den Kinofilm produzierenden Streaming-Kanal von Apple). Doch wie schreibt Stefan Zweig in seinen „Sternstunden der Menschheit“ über die Weltminute von Waterloo? „Bloß eine Sekunde lang gibt sich das Große hin an den Geringen; wer sie versäumt, den begnadet sie nie mehr ein zweites Mal.“