"Mit einem Tiger schlafen": Anja Salomonowitz‘ Spielfilm über die Künstlerin Maria Lassnig derzeit in den Vorarlberger Kinos (Foto: Stadtkino Wien Filmverleih)
Michael Pekler · 27. Mai 2024 · Film

Neu in den Kinos: „May December“

In Todd Haynes‘ unterkühltem Gesellschaftsdrama gerät ein ungleich altes Ehepaar schwer unter Druck: Eine Hollywoodschauspielerin soll in ihrem nächsten Film die damals wegen Verführung eines Minderjährigen inhaftierte Frau verkörpern. Ein gnadenloser Blick auf amerikanische Oberflächlichkeiten und die darunter liegenden Abgründe.

Irgendwann sind aus den drei kleinen Eiern auf dem Blatt satte Raupen geworden, die sich bald verwandeln werden. Es sind seltene Exemplare, die Joe (Charles Melton) in seinem Schmetterlingshaus aufzieht, um sie danach in die Freiheit zu entlassen. Denn der amerikanische Monarchfalter ist vom Aussterben bedroht.
Die Geschichte dieser langsamen Verwandlung mag eine unbedeutende Nebenerzählung in einem Film sein, der sich vorrangig der komplexen Beziehung zwischen zwei Frauen widmet. Doch die Symbolik der Metamorphose wiegt in „May December“ schwer: Während sich die eine Frau sinnbildlich in die andere verwandelt und sich ihr Leben aneignet, macht auch Joe den Eindruck eines seltenen Exemplars, das vermutlich am liebsten davonfliegen würde.
Vor mehr als zwanzig Jahren hat er als 13-jähriger Schüler die erwachsene Gracie (Julianne Moore) kennengelernt, die eine Affäre mit ihm begann. Die Beziehung flog auf, sorgte über die Kleinstadt im amerikanischen Süden hinaus für einen Skandal und brachte Gracie wegen Verführung des Minderjährigen hinter Gitter. Was die beiden nach ihrer Freilassung nicht daran hinderte, zu heiraten. Heute stehen Sohn und Tochter kurz vor ihrem Highschool-Abschluss, und man feiert an einem schönen Nachmittag mit Freunden und Bekannten ein Grillfest. Doch unter der Oberfläche, hinter der amerikanischen Oberflächlichkeit, schlummert das Unsagbare. Was sich viele nur gedacht, verdrängt oder womit sie leben gelernt haben. Womit die gemeinsamen Kinder von Joe und Gracie aufgewachsen sind und womit Gracies Sohn aus erster Ehe, im selben Alter wie Joe, bis heute nicht abschließen konnte.
Dass in diesem Beziehungsdickicht, das Todd Haynes und vor allem Drehbuchautorin Samy Burch entwerfen, irgendwann die Stricke reißen, ist also keine Überraschung. Und zwar mit dem Eintreffen von Elizabeth (Natalie Portman), die gleich zu Beginn in die Feier platzt und vor dem Haus eine braune Schachtel mit entsprechendem Inhalt findet. Gracie ist derartige Geschenke gewöhnt und gibt sich gleichgültig. Das Auftauchen von Elizabeth ist die größere Herausforderung: Die Hollywoodschauspielerin soll demnächst in einer Verfilmung der Skandalgeschichte Gracie verkörpern, die darin die Möglichkeit einer späten öffentlichen Rehabilitation sieht. Was Elizabeth weniger interessiert als die unzähligen intimen Details und Bekanntschaften, die sie im Laufe der kommenden Tage machen wird.

Bröckelnde Fassaden

Es ist eine auf den ersten Blick typische Geschichte für Todd Haynes („Carol“, „Mildred Pierce“), bekannt als Regisseur von streng unterkühlten Liebesdramen, in denen Frauen als Hoffnungsträgerinnen gegen Repressionen und systemische Unterdrückung ankämpfen. Haynes inszeniert seine Filme gerne gezielt in Form und Stil klassischer Melodramen (und feierte, ebenfalls mit Julianne Moore in der Hauptrolle, nicht zufällig mit der Douglas Sirk-Hommage „Far from Heaven“ einen seiner größten Erfolge).
„May December“ beschreibt als Phrase im Englischen zwar allgemein den großen Altersunterschied in einer Beziehung, für Haynes ist die – lose auf einem wahren Fall basierende Geschichte – jedoch nur aufgrund ihrer Ungewöhnlichkeit von Interesse: Immer stärker beginnt die Fassade zu bröckeln, bis sie von der selbstsüchtig agierenden Elizabeth gänzlich eingerissen wird. Wie eine Körperfresserin nähert sich die narzisstische Schauspielerin nicht nur Gracie, sondern auch Joe, und zeichnet sich die Symbiose zwischen den Frauen immer deutlicher ab: Spätestens wenn beide gleich geschminkt nebeneinander vor dem Spiegel stehen, ist die Anverwandlung buchstäblich zum vollkommenen Bild geworden.
Was zerbricht, kann hier nicht mehr gekittet werden. „This is my fucking life“, sagt Joe zu Elizabeth, die nur fühlen wollte, was Gracie gefühlt haben könnte. Das sei keine Story für einen Film, sondern sein Leben. Tatsächlich ist es beides. 

TaS Kino im GUK, Feldkirch (OmU)