Neu in den Kinos: „Julie bleibt still“
Eine aufstrebende Tennisschülerin soll über ihren ehemaligen Trainer aussagen, nachdem dieser vom Dienst suspendiert wurde. Doch Julie möchte sich lieber auf ein wichtiges Turnier vorbereiten – und schweigt. Eine sehenswerte Beobachtung jugendlicher Selbstbestimmung und struktureller Machtverhältnisse.
Die Ratlosigkeit unter den Schülerinnen und Schülern ist groß, als ihr Tennislehrer Jeremy zu Beginn der Trainingsstunde nicht erscheint. Die Jugendlichen wurden nicht rechtzeitig informiert und wissen nun nicht, wie sie sich verhalten sollen. Vor allem Julie (Tessa Van den Broeck) nicht, die als eine der besten Spielerinnen der Tennisakademie offensichtlich ein besonderes Verhältnis zu ihm hatte. Doch selbst Julie hat keine Ahnung, was geschehen ist, obwohl sie Jeremy bereits eine Textnachricht geschrieben hat. Nach einem harten Schnitt läutet in der nächsten Szene am Abend Julies Telefon, es ist Jeremy.
Als wenig später die Nachricht durchsickert, dass der Trainer von der Leitung suspendiert wurde, dauert es nicht lange, bis der vermeintliche Grund feststeht: Seine unkonventionellen Methoden könnten für den Suizid einer von ihm betreuten 16-jährigen Nachwuchsprofispielerin verantwortlich sein. Weil der Missbrauchsverdacht im Raum steht, wird von der Leitung der Akademie umgehend eine Anhörung anberaumt, bei der alle Schülerinnen und Schüler befragt werden sollen. Man möchte einen „offenen Dialog“ pflegen und unparteiisch bleiben, aber für ein sicheres Umfeld sorgen. Während die Leiterin die Jugendlichen erstaunlich souverän informiert, bleiben deren Gesichter im Halbdunkel: Die meisten sind sich unsicher, ob sie die Situation mit dem beauftragten Vermittler besprechen sollen. Julie entschließt sich zu schweigen.
Steigender Druck
„Julie schweigt“ („Julie zwijgt“) lautet entsprechend auch der knappe Titel dieses Dramas, vom belgischen Filmemacher Leonardo Van Dijl ebenso prägnant inszeniert. Dass Van Dijl bereits in seinem Kurzfilm „Stephanie“ die Geschichte einer erst 12-jährigen Turnerin erzählte, die sportliche Höchstleistung zu erbringen hat, kommt ihm nun bei seinem ersten abendfüllenden Spielfilm offensichtlich zugute. Denn mit „Julie schweigt“ widmet sich Van Dijl, diesmal mit der Co-Autorin Ruth Becquart, abermals der Welt des Jugendsports, stellt jedoch – sozusagen vom Spielfeldrand aus – darüber weit hinausreichende Fragen: Wie kann eine junge Frau auf eine hierarchisches Struktur reagieren, der sie sich selbst unterworfen hat? Warum fällt es Julie zunehmend schwer, ihr Schweigen zu rechtfertigen? Liegt es tatsächlich an einem Vorfall zwischen ihr und dem Trainer? Dass Julie heimlich den Kontakt zu Jeremy aufrecht hält, erhöht jedenfalls den auf ihr lastenden Druck: Ihr vertrauenswürdiger Ersatztrainer, der sie zu dem entscheidenden Turnier begleiten soll, wird von Jeremy, der sich offensichtlich um seinen Erfolg gebracht sieht, abgelehnt. Julies innerer Konflikt ist vorprogrammiert.
Scheinbarer Stillstand
Ein kurzes Treffen im Halbdunkel eines Cafés bestätigt den Verdacht der Manipulation und nährt jenen der Grenzüberschreitung. Doch die Antwort auf die Frage, was denn eigentlich passiert ist, spielt in der Folge überraschenderweise gar keine so wesentliche Rolle. Wichtiger als das Geheimnis ist Julies Reaktion auf ihre Umgebung und ihr sich langsam veränderndes Verhalten – in der Schule, abends zuhause und natürlich auf dem Tennisplatz.
Einzelne Szenen oder mitunter nur Einstellungen, in denen offensichtlich nichts geschieht, verdeutlichen diesen scheinbaren Stillstand und Julies beharrliches Schweigen: das unablässige Schlagen der Bälle auf dem Court, ein Abendspaziergang mit dem Hund, die Vorbereitung für die nächste Klassenarbeit.
Rätselhaft treffsicher
Mit seinem sozialrealistischen Ansatz erinnert „Julie schweigt“ an die Arbeiten der renommierten belgischen Filmemacher Jean-Pierre und Luc Dardenne („Rosetta“), die als Co-Produzenten dieses Films verantwortlich zeichnen. Das brisante Thema ist im Kino nicht neu: Bereits im französischen Drama „Slalom“ (2020) erzählte Charlène Favier die Geschichte einer 15-jährigen Rennläuferin, die an einer angesehenen Skischule schwerem Leistungsdruck und dem Machtmissbrauch ihres ehrgeizigen und rigorosen Trainers ausgesetzt ist. „Julie schweigt“ erscheint im Vergleich dazu nahezu rätselhaft. Eine Erzählung ohne psychologische Ausdeutung, aber eben deshalb besonders treffsicher.
ab 27.6., Cinema Dornbirn