Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Fritz Jurmann · 23. Aug 2021 · Musik

Stolze Bilanz mit über 236.000 Besuchern für ein mutiges Festspielprogramm – 2024 kommt Webers „Freischütz“ auf den See

Gestern sind die 75. Bregenzer Festspiele offiziell zu Ende gegangen, Zeit damit für einen persönlichen Rückblick auf einige markante Produktionen. Trotz eines „Wermutstropfens“ (Elisabeth Sobotka) durch die corona-bedingte Absage der „Italienerin in Algier“ von Rossini war diese Saison im künstlerischen Bereich geprägt von enormer Vielfalt mit aufregenden musikalischen und szenischen Erlebnissen sowie engagierten Entscheidungen und Bekenntnissen für den Bereich der Neuen Musik. Die hohe Akzeptanz des Publikums für dieses zum großen Teil spannende Programm blieb mit 236.854 Besuchern in rund 80 Aufführungen nicht aus.

Doch noch ein Corona-Fall

Noch im Mai, zwei Monate vor Beginn der Festspiele, gab es in der Führungsetage Sorgen, ob man angesichts der herrschenden Covid-19-Bestimmungen überhaupt und wenn ja vielleicht vor nur halb besetzter Tribüne am See spielen werde können. Die Bedenken wurden rechtzeitig zerstreut – erlaubt war nun die volle Besetzung mit jeweils 7000 Personen pro „Rigoletto“-Vorstellung. So startete das Festival planmäßig, und noch bis vor kurzem schien es, als würde dies nach der Absage im Vorjahr eine Festspielsaison nach Maß werden. Und dann das: „Die Italienerin in Algier“, Rossinis Buffo-Kostbarkeit im Opernstudio, ist kurz vor ihrer Premiere der getesteten Corona-Infektion eines voll immunisierten Ensemblemitgliedes zum Opfer gefallen. Wie aus heiterem Himmel trübte zu Beginn der vierten Festspielwoche diese Absage die bisher positive Bilanz empfindlich ein. Sechs Wochen penibler Vorbereitung mit einem jungen, hoch motivierten Team unter Anleitung der charismatischen Sangeslegende Brigitte Fassbaender waren damit mit einem Schlag zunichtegemacht, 2000 gebuchte Tickets für die vier Vorstellungen müssen rückabgewickelt werden.

Es gibt Ersatztermine

Doch die Festspielleitung mit Präsident Hans-Peter Metzler, Intendantin Elisabeth Sobotka und dem Kaufmännischen Direktor Michael Diem reagierte auch in dieser Ausnahmesituation besonnen. Zunächst tröstete man das verstörte Ensemble und die Musiker des Symphonieorchester Vorarlbergs, danach versprach man nach Möglichkeiten zu suchen, diese fertig geprobte Produktion außerhalb der Festspielzeit, aber noch vor der kommenden Saison zu realisieren – im Sinne der Mitwirkenden, aber auch des Publikums.
Ja, so kann es gehen, wenn das von vielen bereits überwunden geglaubte Virus unvermutet zuschlägt und damit beweist, dass die Pandemie über den Sommer vielleicht eine Auszeit genommen hat, aber noch lange nicht vorbei ist. Dabei hatte man in Bregenz mit einem straff durchgezogenen Präventionskonzept für Publikum und Mitwirkende Wirkung erzielt. Dies führte auch dazu, dass man letztlich allein mit der 3-G-Regel auskam und den Zusehern das Tragen von Masken während der Vorstellungen wie etwa beim großen Bruder in Salzburg erspart blieb.

Gespielt wird auch bei Regen

 „Rigoletto“, Verdis Oper erstmals als „Spiel auf dem See“ in der wie ein Breitwand-Film ausgebreiteten opulenten Inszenierung des Münchners Philipp Stölzl, punktete auch im zweiten Jahr auf allen Linien. Trotz des wettermäßig eher durchwachsenen Sommers gab es, da Publikum und Künstler oft solidarisch dem Regen trotzten, nur eine einzige Absage der vorgesehenen 28 Aufführungen am letzten Sonntag. Das bedeutet 190.853 Besucher bei einer für die zweite Saison sensationellen Auslastung von 99 Prozent.
Der überdimensionale Clownskopf, der mit zunehmender Dramatik der Handlung Stück für Stück zum Totenkopf wurde – das war eine Metapher, die jeder kapiert hat. Opernkenner erfreuten sich zudem an einer glänzenden Sänger-Besetzung und am Spiel der Wiener Symphoniker voll Italianità, die erstmals hier von einer Frau dirigiert wurden, der Engländerin Julia Jones.

„Nero“, Arrigo Boitos Opernschinken aus dem alten Rom, entstanden in über 50-jähriger Arbeit und noch immer nicht vollendet – allein diese Merkmale hätten zur Vorsicht mahnen müssen, bevor man diesen angeblichen Schatz ans Tageslicht beförderte. Die Meinungen über das Ergebnis gingen denn auch stark auseinander: Viele liebten die eingängige Musik, die von Dirk Kaftan mit den Symphonikern klangschön aufbereitet wurde, andere bemängelten, dass sich Boito nie zwischen Wagner und Verdi entscheiden konnte. Die mutige Regie von Olivier Tambosi wirkte oft grell und überladen, und nicht wenige meinten, man hätte dieses Stück wohl lieber im Archiv ruhen lassen, als es mit Riesenaufwand auf die Bühne zu hieven. Ein Indiz dafür: Keine andere Bühne möchte, wie es sonst oft geschehen ist, diese Inszenierung übernehmen. Die drei Vorstellungen wurden von 3.840 Personen konsumiert (Auslastung 83 Prozent).

„Musik & Poesie“ hat auch heuer ihren liebenswert kommentierenden, reflektierenden Charakter auf die Blockbuster des Programms beibehalten. Sensationell der gänsehäutige genreübergreifende Liederabend von Julian Prégardien, amüsant die Geschwätzigkeit, mit der Schriftsteller Michael Köhlmeier über Geld, Gold und Gier referierte. Die drei Abende im Seestudio erlebten 470 Besucher (Auslastung 75 Prozent), 287 waren es bei „Ihr seid bereits eingeschifft“ von Silvia Costa, einer Koproduktion mit dem Landestheater. Dreimal wurde Bernhard Studlars „Lohn der Nacht“ als Koproduktion mit dem Theater KOSMOS vor 501 Besuchern gegeben. Die Filmoper „Upload“ von Michel van der Aa war eine österreichische Erstaufführung vor 318 Besuchern.    

„Schöpfung“ und „Rheingold“ – zwei Marksteine im Programm

Die Orchesterkonzerte der Wiener Symphoniker hatten bei den Ausgaben 1 und 2, die auch als „Festkonzerte“ zum 75-Jahr-Jubiläum des Festivals deklariert wurden, außergewöhnliches Format. Zum Auftakt Haydns in ihrer schlichten Naivität stets von Neuem berührende „Schöpfung“ dafür anzusetzen, war eine geniale Idee, ebenso mit der Einbeziehung des Festspielchores mit Gastsängern die Verankerung der Festspiele in der Bevölkerung seit ihrer Gründung zu unterstreichen. Dass Benjamin Lack aus diesem heterogenen Stimmengebilde in kurzer Probenzeit einen Profichor von brillanter Klangschönheit zimmerte, grenzt an ein Wunder.

Eine Woche später wurde Wagners halbszenischer „Ring“-Auftakt „Rheingold“, unfasslich durch eine Pause unterbrochen, was allen Bayreuth-Gepflogenheiten widerspricht, zu einer dreistündigen Tour de Force als Sonntags-Frühschoppen für Intellektuelle. Das Sitzleder, das man dafür brauchte, hat sich rentiert – noch niemals bei einem Orchesterkonzert ist die Musik durch eine oft nur angedeutete Inszenierung wie die von Johannes Erath so plastisch, so ironisch gebrochen und durch eine fantastische Sängerbesetzung so lebendig geworden. Der neue Symphoniker-Chef Andrès Orozco-Estrada spannte mit seinem beide Male bestens aufgelegten Hausorchester des Festivals einen bemerkenswert großen Spagat zwischen den beiden extrem gegensätzlichen Bereichen.

Auch das SOV begeisterte unter seinem neuen Chef

Das Symphonieorchester Vorarlberg war auch nach dem Entfall des Opernstudios nicht arbeitslos, sondern setzte am letzten Festspielsonntag erstmals bei diesem Festival unter seinem neuen Chef Leo McFall mit seinem traditionellen Orchesterkonzert ein starkes Zeichen, so Silvia Thurner in ihrer aktuellen KULTUR-Kritik. „Die Werkwahl mit Beethoven, Haydn und Larcher wirkte zugleich als Programm. Dass sich die Verantwortlichen für ein zeitgenössisches Stück entschieden haben, zeigt deren musikalischen Weitblick und den Mut, ein Abenteuer einzugehen und über den Tellerrand des traditionellen Orchesterrepertoires hinaus zu blicken. Vor allem die Werkdeutungen von Haydns „Sinfonia concertante“ mit heimischen Solisten und der dritten Symphonie von Thomas Larcher mit einem riesigen Orchesterapparat zogen die Zuhörenden unmittelbar in ihren Bann und fanden begeisterte Zustimmung.“ Alle vier Orchesterkonzerte zusammen verzeichneten 5.302 Besucher (88 Prozent Auslastung). 

„Michael Kohlhaas“ ist ein signifikantes Beispiel dafür, wie man eine kostbare historische Novelle zu einem schwer erträglichen Zwei-Stunden-Stück verdramatisieren und aufblähen kann. Andreas Kriegenburg produzierte damit deutlich am Zuseher vorbei. Aus einer Mücke einen Elefanten gemacht zu haben kann man nicht sagen – das hat sich die Mücke nicht verdient. Positiv das Spotlight auf die Rolle der Frauen in jener Zeit und ebenso die unglaubliche Leistung des Ensembles mit einem großartigen Max Simonischek voran. Diese Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin erlebten 1.280 Besucher (Auslastung 88 Prozent).

„Wind“, das seit 2018 im Opernatelier entstandene Werk des Bregenzerwälder Klangtüftlers Alexander Moosbrugger, ist wohl das weitaus mutigste Stück Musiktheater, das die Bregenzer Festspiele in den letzten Jahren zur Diskussion stellten. Denn die komplexe Klangwelt des in Berlin höchst erfolgreich wirkenden Komponisten erschließt sich dem Besucher nur nach intensiver Befassung mit der Materie. 670 Besucher (Auslastung 99 Prozent) wollten sich dieses Gesamtkunstwerk nicht entgehen lassen, das laut KULTUR-Kritikerin Silvia Thurner freilich auch Fragen offenlässt.

„Brass eroico“, die zweijährliche Matinee mit dem aus 80 jungen Musikern aus ganz Österreich und der Bodensee-Region gebildeten Blasorchester eines Workshops unter Anleitung von Wiener Symphonikern, war auch heuer ein ganz besonderes Ereignis. Martin Kerschbaum, begnadeter Dirigent speziell in solchen Angelegenheiten, formte innerhalb weniger Tage ein Orchester, das nicht mehr nach Blasmusik, sondern nur noch nach Orchester klang. Auswirkungen auf die heimische Blasmusikszene sind unaufhaltsam.   

Ausblick: Von der „Butterfly“ zum „Freischütz“

Wie schon bekannt, wird auf der Seebühne in den kommenden beiden Jahren 2022/23 Puccinis Oper „Madame Butterfly“ in der Inszenierung von Andreas Homoki, Intendant der Oper Zürich,  zu sehen sein, als Oper im Festspielhaus ist 2022 das 1903 entstandene unbekannte Werk „Sibirien“ von Umberto Giordano geplant. Absolut neu dagegen ist die Mitteilung, dass ab 2024 die große romantische Oper „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber auf die Seebühne kommt, übrigens zum ersten Mal am See. Als Garant für eine spektakuläre Umsetzung des populären Stoffes wurde Philipp Stölzl verpflichtet, der Regisseur von „Rigoletto“.