Konzert der Stella Sinfonietta unter der Leitung von Benjamin Lack (Foto: Victor Marin)
Fritz Jurmann · 05. Aug 2012 · Musik

Sechs Personen mimen einen Zerrissenen: „Alle sind Nijinsky!“ Erfolgreiche Premiere von Detlev Glanerts erschütternder Kammeroper bei den Festspielen

Keine Handlung, dafür riesige, ganz dicht ineinander verwobene, oft abstruse Textmengen, die abgearbeitet werden müssen, dazu eine Musik, die mehr ausdeutet und unterstreicht als illustriert, und sechs Protagonisten, die das Geschehen virtuos über 90 pausenlose Minuten am Köcheln halten. Das ist Detlev Glanerts Kammeroper „Nijinskys Tagebuch“, mit der der diesjährige deutsche „Composer in Residence“ der Bregenzer Festspiele durchaus an den achtbaren Erfolg seiner Opernuraufführung „Solaris“ anschließen kann, auch wenn die beiden Werke völlig anders gestrickt und gewichtet sind. Die Premiere am Samstag am Kornmarkt wurde vom vollen Haus atemlos mitverfolgt und am Ende reichlich bejubelt – eine für ein so modern durchgestyltes und forderndes Werk keineswegs alltägliche Erscheinung, die auch der didaktischen Arbeit der Festspiele in Sachen Neuer Musik zu danken ist.

Österreichische Erstaufführung bereits in Linz

Einziger Wermutstropfen: Bregenz hatte das „Jus primae noctis“ der österreichischen Erstaufführung dieses Werkes ans Landestheater Linz als Koproduktionspartner abgetreten, wo „Nijinskys Tagebuch“ bereits im April dieses Jahres ausgiebig gefeiert wurde. Das kratzt zwar etwas am Festspiel-Image, tut aber sonst fast nichts zur Sache, wurde das Stück doch in Besetzung, Bühnenbild und Regie praktisch unverändert von Linz übernommen. Allein die 14 Orchestermusiker kommen diesmal vom Symphonieorchester Vorarlberg und zeigen mit viel Konzentration und Können auf, welch überraschend neue Ansätze Glanert abseits großer Orchestermassen im fein ausgehörten kammermusikalischen Bereich zu bieten hat.

Die Geschichte beleuchtet das Schicksal des exzentrischen, zwischen 1888 und 1890 geborenen russischen Tänzers Waslaw Nijinsky, dem großen Star des „Ballets russes“, jener berühmten Balletttruppe, die unter Leitung von Sergej Diaghilew um 1910 in Europa zum Inbegriff einer Avantgarde des Tanzes wurde. Nijinsky, der für seinen ausdrucksvollen und technisch perfekten Stil Berühmtheit erlangte, übernahm auch bald die Rolle des Choreographen. Die Uraufführung von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ wurde 1913 in Paris in seiner Choreographie zu einem der größten Kunstskandale des anbrechenden 20. Jahrhunderts.

Die größte Krise seines Lebens

Sechs Jahre später, im März 1919, steht Nijinsky vor der größten Krise seines Lebens. Seine fortschreitende schizophrene Zerrissenheit lässt sich nicht weiter verharmlosen und verheimlichen, er vertraut seine Denkweise, Ängste und persönliche Befindlichkeiten einem Tagebuch an, das zum erschütternden Dokument seiner seelischen Gespaltenheit wird. Sein Geisteszustand pendelt zwischen den Extremen, selber Gott zu sein und banalen Schilderungen von Verdauungsvorgängen sowie sexueller Erinnerungen. Diese in 21 Tagen niedergeschriebenen Aufzeichnungen entstehen unmittelbar vor seiner Einlieferung in verschiedene Irrenhäuser und Heilanstalten, aus denen er mehr als 30 Jahre bis zu seinem Tod 1950 in London nicht mehr ins normale Leben zurückfinden sollte.

1995 werden diese Texte veröffentlicht, sie bilden den Ausgangspunkt des vorliegenden Stücks „für zwei Sänger, zwei Schauspieler, zwei Tänzer und Instrumente“, das sich in seiner vielschichtigen Mischung aus Kammeroper, Prosa und Melodram jeder gängigen Einordnung entzieht. In dieser Textauswahl (Carolyn Sittig) werden diese Passagen auf die drei Paare aufgeteilt: Alle sind sie Nijinsky. Daraus ergibt sich eine unglaubliche, abstruse und irreale Doppelbödigkeit und Zwielichtigkeit des Geschehens, das in vielfältigem Ausdruck zwischen Flüstern und Schreien, im Solo, Duett oder chorisch, sich überlappend oder repetierend, in einem Miteinander oder Gegeneinander von Gesangs-, Sprech- und Bewegungsdarstellung eine fast rituelle Eigendynamik entwickelt und dabei präzise wie ein Uhrwerk abläuft. Da hat die Engländerin Rosamund Gilmore (Choreografie und Regie) ganze Arbeit an stets neuen, einfallsreichen Bewegungsmustern und Gruppierungen geleistet.

Musik der Ausweglosigkeit

Eine fantasievoll variable Bühne (Ausstattung: Nicola Reichert) aus weißen Koffern als Symbol für den bevorstehenden Aufbruch ins geistige Nirwana gibt den Rahmen für dieses komplexe Spiel, die Musik Glanerts geht wunderbar auf diese Ausweglosigkeit des Individuums ein. Einzelne Worte oder Satzteile entsprechen in der Partitur kurzen Tonfolgen oder Akkorden, mehrere Zwischenspiele als Symbol für die Schlafpausen des Patienten geben Gelegenheit zu schön ausformulierten, melodiös farbenreichen Zustandsschilderungen, in denen die Musiker des SOV klangschön aus dem Orchestergraben aufblühen. Sie dürfen sich dafür auch zu Recht am Schluss auf der Bühne zusammen mit den Protagonisten verbeugen.

Glanerts Musik ist hier wesentlich konkreter und angriffiger als bei dem oft etwas glatt poliert wirkenden „Solaris“. Er greift auch zu Vierteltönen, fordert damit Musiker und Sänger auf Herz und Nieren, verlangt Blockflötenklänge, wenn es kindlich wird, Elektronik für die Auseinandersetzung und schwüles Saxophon samt Jazzrhythmen, wenn es um Sex geht. Doch irgendwann nach etwa zwei Dritteln des Abends hat man den Eindruck, dass sein Baukasten leer ist – die Klänge und Motive wiederholen sich, ein „Déjà-vu“-Gefühl stellt sich ein. Der kompetente Dirigent Ingo Ingensand ist erfolgreich um Abstimmungen und Ausdrucksvielfalt von Glanerts Vorlage bemüht.

Nijinskys letzte Worte: „Ich will nicht …“

Die Besetzung ist ein Idealfall und hat sich Bewunderung allein für die Bewältigung der gewaltigen und komplizierten Textmenge und der Vielfalt an Aktionen zwischen Singen, Sprechen und Tanzen verdient. Dies funktioniert oft sogar grenzübergreifend, wenn etwa die großartige Schauspielerin Barbara Novotny glatt auch als Tänzerin durchgehen könnte. Ihr Partner Karl M. Sibelius bleibt dagegen etwas verhaltener. Dem schön geführten Sopran von Belina Loukota und dem abgerundeten Bariton von Martin Achrainer hat Glanert auch hier wieder durchaus sangliche Melodien in die geläufige Kehle geschrieben. Die beiden Tänzer Ilja van den Bosch und Daniel Morales Pérez bewältigen ihren Part großartig – wenn sie allerdings Sprechtexte beisteuern müssen, fallen diese durch den Akzent der beiden aus dem Rahmen. Denn, nicht zu vergessen: Alle sind Nijinsky! Der sich im Übrigen mit den berührenden Worten verabschiedet: „Gott will den Leuten zeigen, dass ich genauso ein Mensch bin wie sie … Ich werde jetzt gehen … Ich warte … Ich will nicht …“

Zweite (und letzte) Aufführung: Dienstag, 7. August, 19.30 Uhr, Bregenz, Theater am Kornmarkt

Details und Karten unter www.bregenzerfestspiele.com