Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Fritz Jurmann · 09. Okt 2016 · Musik

Musiktheater landet mit Offenbach einen großen Wurf – Götzis im „Can-Can-Fieber“

Glänzende Premiere der neuen Produktion des ambitionierten Musiktheaters Vorarlberg am Samstag in der ausverkauften Götzner Kulturbühne AmBach. Ein zunehmend begeistertes Publikum feierte die temperamentvoll freche und satirisch-hintergründige Inszenierung von Jacques Offenbachs Operettenklassiker „Orpheus in der Unterwelt“.

Dem szenischen Niveau entspricht auch eine hochkarätige  Besetzung der Haupt- und Nebenpartien, ein diesmal sehr stimmkräftiger und einsatzfreudiger Chor und das gewohnt feinsinnig und klangschön musizierende Orchester. Kein Wunder, dass dieser Abend, angepeitscht von den jugendlichen Ballettratten, schließlich in ein wahres „Can-Can-Fieber“ diesseits und jenseits der Rampe mündete.

Der Intendant zog die Fäden

Mann der Stunde ist Nikolaus Netzer, seit 2007 bewährter künstlerischer Leiter des mtvo, der schon in seiner ersten Saison als neu ernannter Intendant des Unternehmens ein dreifach glückliches Händchen bewiesen hat. Er holte mit der Offenbach-Operette ein bislang in Vorarlberg noch nie aufgeführtes, zündendes Stück auf die Bühne und sorgte, diesmal unter Verzicht auf sein eigenes Dirigat, mit zwei Debütanten am Musiktheater Vorarlberg auch für eine kompetente szenische und musikalische Umsetzung.
Die in Bregenz lebende, aus dem Schauspielbereich weitum bekannte Regisseurin Barbara Herold bewältigte damit auf Anhieb höchst erfolgreich die erste Musiktheater-Produktion ihres Lebens, der Tiroler Dirigent Michael Mader, den Netzer von seiner Tätigkeit am Tiroler Landestheater kannte, hatte Bühne und Orchester gut im Griff und verlieh der Musik auch das notwendige französische Flair aus Raffinement und Leichtigkeit.
Offenbachs Operette ist aber auch wirklich ein dankbares Stück, ausgestattet mit einer Musik voll Witz und originellen Einfällen, die in die Beine und ins Herz geht. Und man wundert sich erneut, dass dieses 1858 entstandene Werk nach wie vor international kaum auf den Spielplänen steht und auch eingefleischte Musikfreunde daraus gerade mal die spritzige Ouvertüre kennen und den „Can-Can“ nachpfeifen können.
Allein die der Handlung zugrunde liegende Umkehrung der Orpheus-Sage aus der griechischen Mythologie bietet jede Menge Stoff für eine Parodie auf die Schein- und Unmoral zwischen Götter- und Menschenwelt und auf allzu menschliche  kleine Schwächen. Sie wird in dieser Fassung so verallgemeinert, dass die vielen Anspielungen und Bezüge auch dann kapiert werden, wenn man das Original nicht so genau kennt. Vor allem die bei Offenbach neu ersonnene Figur der „Öffentlichen Meinung“ als resolute Hüterin von Sitte und Moral, die immer wieder mahnend eingreift, wird so zum Symbol gutbürgerlicher Scheinheiligkeit und Verlogenheit, die wohl zeitlos sein dürfte.

Barocke Deutung schon 100 Jahre früher

Dieses Original hat Christoph Willibald Gluck etwa einhundert Jahre zuvor als berühmte Barockoper „Orpheus und Eurydike“ vertont, die durch Zufall oder was immer in dieser Saison im Februar 2017 vom Vorarlberger Landestheater gemeinsam mit dem SOV aufgeführt wird. Während dort die tiefe Liebe und der echte Schmerz über den Verlust der Partner das Geschehen dominiert, stellen Offenbach und seine Librettisten dieses Geschehen glatt auf den Kopf und machen aus Orpheus und Eurydike ein Ehepaar, das sich auseinander gelebt hat, längst fremd geht und sich freut, dass diese Verbindung nun endlich durch den Tod der Gattin beendet wird, verursacht durch einen Schlangenbiss. Ein Element, das hier ebenso aus dem Original übernommen wurde wie das Zitat der berühmten Orpheus-Arie „Ach, ich habe sie verloren“.
Aber auch sonst bietet diese Vorlage den Einfällen einer fantasievollen Regie ein weites Spielfeld, das Barbara Herold lustvoll nutzt, ohne dabei in plakative Anspielungen zur aktuellen Tages- oder Gesellschaftspolitik zu verfallen. Allein die straffe, tempogeladene Führung der Protagonisten, die auch bei diesem personalintensiven Stück keinerlei Leerläufe zulässt, zeigt ihre starke Hand und ihre langjährige Erfahrung. Dazu kommen Einfälle wie die drei als Schafe des verkleideten Gottes Pluto auftretenden strickenden Frauen in weißen Wollstrümpfen, ein wie Otto zu seinen besten Zeiten auf dem Scooter über die Bühne sausender helmbewehrter Götterbote Merkur (Regieassistent Simon Latzer) oder ein riesenhafter Döner, der in der Unterwelt zum Verzehr bereitsteht, während sich das Personal im Olymp über das ewig gleiche langweilige Manna das Maul zerreißt. Auch, wenn Göttervater Jupiter in beiläufigem Wortwitz meint: „Ich muss es eben noch bei den Bregenzer Festspielen etwas regnen lassen“, hat Herold die Lacher auf ihrer Seite.

Zwischen weißem Wolkenweich und roter Erotikschwüle

Die drei Ebenen des Olymp, der Menschen- und der Unterwelt werden in ihrer krassen Unterschiedlichkeit trotz bekannt begrenzter bühnentechnischer Möglichkeiten des Saales von AmBach durch Hartmut Holz (Bühne und Kostüme) plastisch herausgearbeitet. In wolkenweiches Weiß getaucht das Reich des korrupten Göttervaters Jupiter, in dem die Engel auf Daunen gebettet in Nachthemden herumgeistern; die betuliche Biederkeit der Welt des Musiklehrers Orpheus und seiner attraktiven Schülerinnen als Gespielinnen und von Eurydike mit ihrem Schäfer; die rote Drastik einer schwülen Unterwelt mit Glitzervorhang, wo die Damen und Herren als äußeres Zeichen allesamt kleine Hörnlein am Kopf tragen, Chef Pluto mit der neunschwänzigen Katze aus dem Erotik-Fundus ausgestattet ist und wo es Kollege Jupiter im Fliegen-Duett als verkleidetes Insekt mit Eurydike treibt.
Dort ist auch der „Höllen-Galopp“ angesiedelt, wie er zur Entstehungszeit der Operette benannt wurde, bevor es später zur heute allgemein gebräuchlichen Bezeichnung „Can-Can“ kam. Zu diesem Rhythmus schmeißen die jugendlichen Tänzerinnen in ihrer bunt karierten Unterwäsche so gut trainiert die Beine, dass es eine Freude ist und nach dem rauschenden Finale prompt noch ein Da Capo gibt (Choreografie: Verena Russo-Haftel).
Hier wie dort gibt auch der Amateurchor des mtvo unter der neuen Leiterin Darina Naneva-Ivov ein körperlich und stimmlich gut bewegliches und spielfreudiges Instrument ab. Michael Mader entpuppt sich auf Anhieb als sehr umsichtiger musikalischer Leiter, dem nichts entgeht, der in Dynamik und Tempi sängerfreundlich agiert und eine gesunde Balance zwischen Bühne und Orchester herstellt.

Mit großer Leidenschaft am Werk

Auch auf der Profiebene wird an diesem Abend mit großer Leidenschaft gesungen, gesprochen und auch glaubhaft und gekonnt geschauspielert, was der Dichte und Glaubhaftigkeit im Ablauf der Handlung sehr zugute kommt. Die quicke Klagenfurterin Theresa Dittmar als Eurydike wird zwar als indisponiert gemeldet, läuft aber nach kurzer Bedenkzeit zu großer Form auf und zeigt neben ihren lyrischen Qualitäten auch strahlende Höhe und Freude an Koloraturen. Der mexikanische Tenor Adam Sanchez erfreut als selbstgefälliger Strahlemann mit sicherem Auftreten und schönen stimmlichen Anlagen. Der Tiroler Philippe Spiegel, den man vom Vorjahr als „Figaro“ noch in bester Erinnerung hat, setzt seinen gut geführten Bariton als verschlagener Göttervater Jupiter glaubhaft ins Treffen. Der slowenischstämmige Mario Podrecnik offenbart als Höllengott Pluto sein wahres Gesicht eines rücksichtslosen Despoten, der auch durch die Kraft der Stimme seine Macht zu demonstrieren versteht.

Es ist erfreulich, wie viele in unserem Raum lebende und wirkende Künstler sich diesmal neben den Hauptpartien in kleineren Rollen finden. Eine wunderbar zu Herzen gehende Charakterstudie etwa liefert Reinhard Razen als tragisches Faktotum des Kammerdieners Hans Styx, der von seiner eigenen Vergangenheit als „Prinz von Arkadien“ nicht loskommt. Gisela Razen verkörpert ihre Sprechrolle als mahnendes Gewissen der „Öffentlichen Meinung“ energisch und mit deutlichem Selbstbewusstsein. Im Olymp finden sich auch die heimischen Sopranistinnen Christine Schneider als Liebesgöttin Venus, Julia Großsteiner als Liebesgott Cupido und Ulrike Wender als Weisheitsgöttin Minerva, die ihre Partien darstellerisch und sängerisch mit viel Spielfreude erfüllen.

Am meisten freut sich bei der anschließenden Premierenfeier AmBach aber die Präsidentin des Musiktheaters Vorarlberg, Margit Hinterholzer, über das tolle Gelingen dieser Produktion. „Maggie“ kann, auch dank des heuer besonders intensiv spürbaren Ensemblegeistes unter den rund 120 Mitwirkenden vor und hinter der Bühne, stolz darauf sein, dass sich dieser „Orpheus in der Unterwelt“ im Ranking der letzten Jahre beim mtvo zumindest gleichwertig neben der bisherigen Spitzenposition von Mozarts „Don Giovanni“ von 2012 behaupten kann.

 

„Orpheus in der Unterwelt“, Operette von Jacques Offenbach
Produktion des Musiktheaters Vorarlberg
Weitere Aufführungen in der Kulturbühne AmBach, Götzis:
So, 9. Oktober, 18.00 Uhr
Mi, 12. Oktober, 18.00 Uhr
Fr, 14. Oktober, 19.30 Uhr
Sa, 15. Oktober, 19.30 Uhr
Infos: www.mtvo.at
Tickets: tickets@mtvo.at oder Tel. 0680 / 226 45 40

Dauer: ca. zweieinhalb Stunden inkl. Pause