Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Mirjam Steinbock · 13. Aug 2016 · Musik

Kleine Lügen und große Nöte – "Tango de Salón" und Fritz Karl spielten im Freudenhaus mit ausweglosen Situationen der brasilianischen Mittelschicht

„Kleine Lügen. Du hörst mir ja doch nie zu“, ein Erzählband mit satirischen Kurzgeschichten des brasilianischen Schriftstellers Luís Fernando Veríssimo bildete den Boden dieser mit exquisiter Salonmusik angereicherten Lesung. Veríssimo führt in seiner Heimat seit Jahrzehnten die Bestsellerlisten, ist hierzulande jedoch weniger bekannt. Magnet im voll besetzten Freudenhaus war eher der Oberösterreicher Fritz Karl, ein im deutschsprachigen Raum bestens bekannter und mit etlichen Preisen ausgezeichneter Film- und Theaterschauspieler. Er entdeckte auch den inzwischen vergriffenen Erzählband und brachte ihn ein in die künstlerische Zusammenarbeit mit dem österreichisch-ukrainischen Salonmusik-Quintett „Tango de Salón“.

Die Milieustudie der brasilianischen Mittelschicht, von Karl trefflich gelesen und gestisch unterstrichen, traf wohl den Geschmack der Zuschauenden, obwohl die Charaktere und die verfahrenen Situationen der betroffenen ProtagonistInnen bemitleidenswerter nicht hätten sein können. Aber dies scheint wohl dem Wesen der Satire inne zu wohnen. Jene spöttische Ironie, versehen mit einem verächtlichen Lächeln, führte beim Publikum zu einer humor-ähnlichen Reaktion, die vor allem eines spürbar machte: die Erleichterung der Betrachtung von außen, ohne selbst in der Haut der Hauptfiguren zu stecken.

Stereotype Überzeichnungen


Die ausgewählten Geschichten aus „Kleine Lügen“ zeigten ein Spektrum schier auswegloser Beziehungsgeflechte. Ein Ehepaar trennt sich nach einer gemeinsamen Nacht im Hotel, weil deren Bekannte es dort in Begleitung der jeweiligen Liebschaft erkannt haben wollten. Eine Frau läuft Gefahr, in flagranti von ihrem Mann entdeckt zu werden und greift zu offensiven Mitteln, um der Aufdeckung ihres Betrugs zu entgehen. Ein Kindergeburtstag gerät für überforderte Eltern vollkommen aus dem Ruder und ein verheirateter Mann, der beim Kauf eines Nachthemds als Geschenk für seine Geliebte entdeckt wird, outet sich kurzerhand und folgenreich als Transvestit. Kein Klischee scheint zu oberflächlich, um nicht ausführlich und dramatisch ausgeschmückt zu werden. Selbst vor dem Genre Märchen macht Veríssimo nicht halt. Die Jungfrau, die ihren Diamantring in einem Fluss verliert und ihrer Familie erzählt, dieser sei ihr gestohlen worden, wird nicht nur zur Urheberin zweier Rachemorde, sie fällt ihrer Lüge fast selbst zum Opfer und verliert das Vertrauen ihrer Familie zugunsten eines anderen Lügners. Und dieser ist - nicht sehr erstaunlich - ein Mann. Das Thema Wertschätzung und Achtung gegenüber allen Geschlechtern scheint dem südamerikanischen Autor in diesen Kurzgeschichten fremd. Stereotype Zeichnungen, vor allem bei Frauen, werden durch Fritz Karls mitunter eher hysterische Intonation noch deutlicher. Selbst vor Kindern macht Veríssimo nicht halt, wenn er in seiner Kindergeburtstagsgeschichte in Frage stellt, ob König Herodes nicht doch richtig gehandelt habe.

Grenzen bei Satire


Auch wenn es sich bei Satire um eine Kunstform mit Freiheit handelt, darf überlegt werden, wo hier die Grenze ist oder sein sollte. Auch diejenige, wo Schauspiel aufhört und das Private anfängt. Fritz Karl verfiel bisweilen in das Gelächter des Publikums und verließ seine Rolle als Vortragender. Dies könnte Absicht gewesen sein, um eine Nähe zu den Zuhörenden herzustellen. Aber eben, es war nicht ganz klar. Sehr klar und von zauberhafter Poesie war die Musik, die - jeweils zwischen die Erzählungen platziert - die entstandenen Bilder und Eindrücke mal melancholisch, mal beschwingt, dann verzögert, mit Atempause und sehr viel Liebe zu anspruchsvollem Spiel nachwirken ließ. Das Ensemble, bestehend aus den Kammer- und Orchestermusikern Peter Gillmayr mit Violine, Andrej Serkov am Bandoneon, Guntram Zauner mit Gitarre, Roland Wiesinger am Kontrabass und Wieland Nordmeyer am Klavier spielten Tango von Argentinien bis Finnland aus insgesamt 120 Jahren. Sensibel arrangiert vom argentinischen Gitarristen und Komponisten Coco Nelegatti erklangen Stücke der Gründerzeit von Angel Villodo bis Interpretationen des Tango-Erneuerers Astor Piazzolla, stets untermalt vom feinen Minenspiel der fünf Musiker.

Bekanntes Lokalkolorit


Klangkompositionen mit dem zwar im deutschen Krefeld erfundenen und doch für den argentinischen Tango so typischen Bandoneon luden Schuhspitzen zum Mitwippen ein und es drängte sich vor das innere Auge die sinnliche Verschmelzung eines Tanzpaars, das damit die - durch die Geschichten oft separierten - Paare auf organische Weise wieder miteinander verband. Ein gelungenes Ende bot die Zugabe. Fritz Karl ließ mit „Zorro, der Rächer aller Würstelmänner“ den charmant-raunzigen Stil des Wiener Autors H.C. Artmann aufleben und machte das Lokalkolorit der Hauptstadt spürbar. Authentisch wirkte das und nicht so vorführend wie es beim brasilianischen Modell der Fall war. Aber vielleicht ist man es auch schlicht gewöhnt, auf welche Weise in unmittelbarer Nachbarschaft geraunzt, gelogen und geneckt wird.