Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Silvia Thurner · 01. Dez 2011 · Musik

„Was die Winterreise im Innersten zusammenhält“ – Hans-Udo Kreuels legt ein lesenswertes Buch über den berühmten Liederzyklus von Franz Schubert vor

In Form einer Podiumsdiskussion präsentierte der Pianist, Komponist, Pädagoge, Musikwissenschafter und Autor Hans-Udo Kreuels sein neuestes Buch über Schuberts Winterreise. Unter der Leitung von Direktor Jörg Maria Ortwein diskutierten die Musikjournalisten Anna Mika und Fritz Jurmann sowie der Sänger Clemens Morgenthaler in der Bibliothek des Landeskonservatoriums. Unter den Gesprächspartnern entwickelte sich eine spannende, anregende und unterhaltsame Diskussion. Zahlreiche Details und unterschiedliche Sichtweisen auf den berühmten Liederzyklus wurden aufgezeigt. Darüber hinaus bereicherte Hans-Udo Kreuels am Klavier als musizierender Sängermusiker die Buchpräsentation maßgeblich.

Unzählige Publikationen und Werkanalysen sind über das wohl berühmteste Werk Schuberts erschienen. Über seine Beweggründe, dieser Fülle einen weiteren Band zur Seite zu stellen, sagte Hans-Udo Kreuels: „ Ich wollte ein Buch über Schuberts Winterreise schreiben, auch in Anbetracht dessen, dass es schon viele Analysen und Essays gibt, weil ich den künstlerischen und den wissenschaftlichen Zugang miteinander verbinden wollte.“ Seit gut vierzig Jahren beschäftigt sich Hans-Udo Kreuels mit Schubert-Liedern und insbesondere mit der Winterreise. Innere Beweggründe waren schließlich ausschlaggebend, dass er akribisch seine Einsichten über die Winterreise in Buchform publizierte.

Motivisch gebündelte Winterreise

Im Gespräch mit Anna Mika, Fritz Jurmann und Clemens Morgenthaler wurden wesentliche interpretatorische Gesichtspunkte erörtert. Eine Motivik, die sich durch den Zyklus zieht, arbeitete Hans-Udo Kreuels detailliert heraus. Dazu legte er mit großem Wissen und einleuchtenden Beispielen am Klavier einige musikalische Einblicke dar. „Ich habe die Motivik heraus gefiltert“, so der Buchautor. „Es gibt renommierte Wissenschaftler wie Elmar Budde oder Walter Dürr und Arnold Feil, die davon ausgehen, dass es zwar ein Linienetz gibt, aber sie würden nicht so weit gehen und von einer Motivik in der Winterreise sprechen. Mit gutem Grund gehe ich so weit, weil diese ganz speziellen Figurationen die Winterreise so bündeln und exakt abbilden, dass man von einem motivischen Netz sprechen kann.“ Spannend zeichnete Hans-Udo Kreuels anschließend Beispiele einer inhaltlichen Pervertierung nach. Mit melodischen Wiederholungen über unterschiedlichen Textstellen erzielte Schubert besondere inhaltliche Quervereise, die mannigfaltige Interpretationsansätze eröffnen.

Perspektiven

Anna Mika ging in ihrem Eingangsstatement zuerst auf die ausweglose und düstere Stimmung in der Winterreise ein. Ian Bostridge eröffnete ihr im Rahmen eines Gespräches einen anderen Blickwinkel. „Im Jahr 2001 habe ich mit Ian Bostridge ein Interview gemacht. Er hat mir die Augen geöffnet, dass in der Winterreise nicht nur Dunkles und Negatives ist“, erzählte Anna Mika. „Der Protagonist ist ein Stehaufmännchen, das sich immer wieder mit Selbstironie und Sarkasmus auf die Beine bringt. Den Schluss sieht Bostridge so: Schubert identifiziert sich sehr stark mit dem Protagonisten in der Winterreise, er entscheidet sich für ein Leben in Armut und mit der Musik. Die Winterreise ist sehr wenig biografisch, aber in dem Moment sieht Schubert sich selbst in diesem Wanderer.“

Interpretationsvergleiche

Fritz Jurmann hat im Lauf seines Berufslebens über hundert verschiedene Interpretationen der Winterreise gehört. Sehr genau kennt er den Liederzyklus und zeigte sich umso mehr erfreut darüber, dass er im Buch von Hans-Udo Kreuels zahlreiche neue Erkenntnisse gefunden hat. Darüber hinaus verwies Fritz Jurmann auf das letzte Kapitel des Buch, in dem Interpretationsvergleiche in Rätselform dargelegt werden. „An diesem Buch fasziniert mich die Forschungsarbeit und das Wissenschaftliche, aber besonders hat mich das letzte Kapitel begeistert, wo auf unterschiedliche Interpretationen eingegangen wird. Das ist ganz raffiniert gemacht. Kreuels gibt dem Leser ein Rätsel auf. Er schreibt über zwölf renommierte CD-Aufnahmen, ohne die Interpreten zu nennen. Diese beschreibt er so detailliert, dass man erahnen kann, wer gemeint ist.“

Dem Sprechgesang angenähert

Clemens Morgenthaler hat Schuberts Winterreise selbst im Repertoire. Im Gespräch betonte er, wie wichtig eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Werk im Vorfeld sei. Er unterstrich unter anderem Hans-Udo Kreuels’ Kritik am „Schöngesang", mit dem man die Essenz der Lieder auf keinen Fall treffe. „Viele Aufnahmen – vornehmlich der Vergangenheit – kranken daran, dass der Sänger seine Möglichkeiten in den Vordergrund stellt, statt das Werk wirklich zu durchdringen und Farben dafür zu finden. Sängerische Selbstdarstellung und Arroganz verabscheue ich auf das Tiefste, denn ein Musiker und Sänger ist ein Diener.“

Der Autor als Pianist und Sänger

Ergänzt wurde die spannende Podiumsdiskussion durch Lieder, die Hans-Udo Kreuels am Klavier musizierte. Authentisch spielte er die „Wasserflut“, die „Nebensonnen“ und abschließend den „Leiermann“. Das Buch trägt den Untertitel „Ein Wegweiser zum Verständnis und zur Interpretation“. Jene, die lediglich eine Werkeinführung suchen, sollten nicht zu dieser Publikation greifen. Wer sich jedoch in die einzelnen Lieder und in eine Gesamtschau der Winterreise vertiefen will, erhält mit diesem Band eine Fundgrube an musikalischen Einsichten. Eine Analyse über Wilhelm Müllers Textvorlage und zahlreiche überraschende Einblicke bieten eine spannende Lektüre.

 

Hans-Udo Kreuels: Schuberts Winterreise
Ein Wegweiser zum Verständnis und zur Interpretation. Die Winterreise von Wilhelm Müller und Franz Schubert. Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main, 2011, 260 Seiten, € 40,90.