Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Fritz Jurmann · 12. Dez 2010 · Musik

„O magnum mysterium“ - Das Vokalensemble „Ottava Rima“ demonstrierte in Dornbirn die hohe Kunst des A-Cappella-Gesanges

Still und leise, fast unbemerkt ist in den letzten fünf Jahren in unserem Land ein Vokalensemble herangewachsen, das uns heute das Staunen lehrt. Spätestens nach seinem glänzenden Konzert am Samstagabend mit geistlicher Chormusik des 20. Jahrhunderts in der Pfarrkirche Dornbirn-Oberdorf ist es an der Zeit, dass die vier Damen und vier Herren von „Ottava Rima“ in unserem Land auch von einer breiteren Öffentlichkeit bewusster wahrgenommen werden: Als Konstante in der hohen Kunst des A-Cappella-Gesanges. Für eine instrumentale Komponente auf Augenhöhe sorgte an diesem Abend ein aufregendes Salzburger Streichquartett rund um den Dornbirner Cellisten Florian Simma.

Der Name „Ottava Rima“, den sich die findigen Vokalisten von Anfang an zugelegt haben, leitet sich von einer italienischen Versform ab (siehe dazu auch das Porträt von Silvia Thurner in der aktuellen Printausgabe der KULTUR), bedeutet aber keinerlei inhaltliche oder stilistische Festlegung. Deswegen war die Verblüffung auch groß, dass das Ensemble nur ein gutes halbes Jahr nach seiner swingenden Offenbarung vergangenen März in der Vorarlberger Landesbibliothek bereits wieder mit einem neuen und komplett anders gestrickten Programm an die Öffentlichkeit trat – nicht weniger perfekt studiert, nicht weniger mitreißend, dafür mit weit mehr Tiefgang, wie es sich eben in den so genannten besinnlichen Tagen vor Weihnachten gehört.

In musikalischer und menschlicher Harmonie

„O magnum mysterium“ stand als Motto der Menschwerdung Christi über diesem Abend: „O großes Geheimnis“. Diese „inspirierende Reise ins 20. Jahrhundert“, so der Untertitel, führt diesmal in die Klangwelt der internationalen geistlichen Chormusik, gespickt mit ungeheuren Risken und Klippen und Ansprüchen an Intonationsreinheit, Sicherheit und rhythmisches Gespür, die die acht SängerInnen mit viel Begeisterung und Können, in spürbarer musikalischer und menschlicher Harmonie, für sich erschlossen und für die Zuhörer nacherlebbar machten. In den doppelchörigen oder achtstimmigen Sätzen ist jede der acht Stimmen ein Solist, trägt die Verantwortung für seinen Part ebenso wie für eine ausgewogene Klangbalance. Demokratie wird nämlich bei „Ottava Rima“ groß geschrieben, es gibt keinen musikalischen Leiter oder gar Dirigenten. Bloß Chorguru Oskar Egle gab im Vorfeld als Coach wertvolle Tipps zu Interpretation und Werkwahl mit faszinierend vielschichtiger, wenig geläufiger, dafür mit großer Sorgfalt ausgewählter Musik aus verschiedenen Teilen Europas und aus Amerika.
Da ist am Beginn Benjamin Brittens „Hymn to the Virgin“, ein doppelchöriges Werk zu Ehren der Jungfrau Maria – eine der beiden Vierergruppen singt lateinisch, die andere englisch, dennoch sind die Echowirkungen verblüffend. Im Zentrum dann das namensgebende „O magnum mysterium“, in dem Francis Poulenc in berührender Schlichtheit das Weihnachtswunder in seine Sprache fasst. Der Sinn für Experimentelles kommt im „Benedictio“ des Estländers Urmas Sisask zum Tragen, mit minimalistischen Klangfloskeln im Sprechgesang über rhythmisch vertracktem Fundament, Traubenakkorde und Klangflächen in harmonischen Weitungen spannen sich im „Cantate Domino“ des Litauers Vytautas Miskinis.
Vor dem gemeinsamen „O nata lux“ des Amerikaners Morten Lauridsen noch ein Stück Lateinamerika, die von Ariel Ramirez, dem Komponisten der berühmten „Misa Criolla“, in Musik gefasste und nach Argentinien transferierte Herbergssuche von Joseph und Maria in einem typischen Arrangement der "King‘s Singers". Alles entsteht auf einem staunenswert hohen, kultivierten Niveau, voll innerer Geschlossenheit und Überzeugung und überstrahlt von engelsgleich schwebenden Sopranen mit anscheinend unbegrenztem Höhenpotenzial.

Florian Simma als „Hahn im Korb“

Eine geniale Idee von „Ottava Rima“ war es, sich als instrumentales Pendant den aus Dornbirn stammenden Solocellisten des Mozarteum-Orchesters Salzburg, Florian Simma, samt drei befreundeten Musikerinnen einzuladen. Er kann sich als „Hahn im Korb“ inmitten einer ungewöhnlichen Besetzung mit einem zweiten Cello anstelle der zweiten Geige fühlen – eben genau das vorgeschriebene samtig dunkle Instrumentarium für das zweite Streichquartett des Russen Anton Arenski von 1894, das im Ablauf des Konzertes eine Art instrumentalen roten Faden bildet.
Eigentlich ist das mit liturgischen und folkloristischen Elementen im düsteren Klangbild angereicherte singuläre Werk ja als Memorial zum Tod Peter Iljitsch Tschaikowskys gedacht gewesen. Doch die drei stark emotional geprägten Sätze verbinden sich hier mit den dazwischen geschobenen Chorwerken auch zu einer meditativ eindringlichen Klangcollage von ganz besonderer weihnachtlicher Wirkung, der sich wohl niemand in der voll besetzten Kirche zu entziehen vermochte: Der Funke der Botschaft ist übergesprungen. Entsprechend überwältigend der Schlussapplaus, entsprechend intensiv auch die lang anhaltenden Diskussionen nachher über das eben Erlebte, von dem vieles wohl ein großes Geheimnis bleibt: „O magnum mysterium“