Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Ingrid Bertel · 14. Okt 2023 · Literatur

Michael Köhlmeier „Boulevard der Helden. 30 moderne Legenden“

Die Unerschrockenen

Brauchen wir Helden? Und wenn ja, welche? Solche mit Superkräften wie aus den Marvel-Comics? Oder lieber Lifestyle-Ikonen? Kreative oder geschäftstüchtige? Oder solche, die als moralische Vorbilder taugen? „Moderne“, behauptet Michael Köhlmeier und vergibt 30 Sterne für seinen „Boulevard der Helden“.

Einen bekommt Marilyn Monroe. Wahrscheinlich wurde auch sie „Baby“ genannt. Michael Köhlmeier schüttelt sich bei diesem Gedanken. Die Anrede „Baby“ war so geläufig, dass nicht einmal selbstbewusste Frauen dagegen rebellierten, wenn diese sich als Kosewort tarnende Unverschämtheit in fast jedem Schlager zu hören war – und nicht nur in seichten Schlagern, sondern auch in Songs eines späteren Nobelpreisträgers wie Bob Dylan. Marilyn Monroe verkörperte perfekt den Traum verklemmter Männer: „Der Mann muss weder schön noch klug noch charmant sein. Um Frauchen zu erobern, denn Frauchen hüpft, wenn er pfeift.“
Aber das, so Köhlmeier, ist das Film-Image von Marilyn Monroe. In der Realität war sie eine ziemlich versierte Geschäftsfrau, vor allem aber eine Frau mit einer ganz klaren politischen Haltung, „die sich mit der Autorität ihres Rufes dafür einsetzte, dass zum ersten Mal in den USA eine schwarze Sängerin in einem Opernhaus auftreten durfte, nämlich Ella Fitzgerald, mit der sie eng befreundet war.“

Blue Skies

Als „the first lady of jazz“ wurde Ella Fitzgerald angekündigt. „First lady“ – nicht im liberalen New York, sondern im tiefen Süden, im Orpheum Theatre in Memphis, wo Schwarze nicht einmal die Aufgangstreppe betreten durften. Es war ein umjubeltes Konzert. Frank Rich, Kolumnist der New York Times schrieb über den Gesang von Ella Fitzgerald: „Er versetzt uns in ein Reich der Freude, jenseits aller Begrenzungen von Rasse oder Alter, Jazz oder Pop. Hoher oder niederer Kunst.“
Ella Fitzgerald nahm den Applaus nicht allein entgegen. Sie bat Marilyn Monroe zu sich auf die Rampe. „Da standen sie. Und verbeugten sich gemeinsam. Vielleicht hat da die eine oder andere Besucherin, der eine oder andere Besucher nach diesem Abend die Welt anders gesehen, vielleicht hat der dumme Rassismus eine Beule abgekriegt.“
Ob Schauspielerin, Sängerin oder Sportlerin – was Michael Köhlmeier als heldenhaft beschreibt, ist dieser klare menschliche Anstand. Diese Haltung zeichnet auch die Sprinterin Wilma Rudolph aus, die – wie Forrest Gump – die Kinderlähmung besiegte und in den 1960er Jahren zum Leichtathletik-Superstar wurde. Als sie 1994 starb, kam der Film „Forrest Gump“ in die Kinos. „Eric Roth, der Drehbuchautor, soll gesagt haben, der ganze Film sei eine Hommage an Wilma Rudolph.“

„Greife die herrschenden Cliquen an“

Als Wilma Rudolph nach ihren sensationellen Siegen in die USA zurückkehrte, sollte sie gebührend gefeiert werden, und zwar in Anwesenheit des Vizepräsidenten Richard Nixon. Sie ertrotzte, dass auch Schwarze eingeladen wurden. „Und Wilma ist einmarschiert in das große Zelt – zusammen mit den schwarzen Leuten.“ So sehr Michael Köhlmeier (und nicht er allein) eine solche Haltung bewundert, er ist sich auch im Klaren darüber, dass Haltung die Grenze zur Lächerlichkeit überschreiten kann. Er erzählt das am Beispiel des Briefwechsels zwischen Rudi Dutschke und seinem Attentäter Josef Bachmann: Bachmann breitet seine wirren, rechtsradikalen Hetzreden aus, Dutschke rät ihm: „Lass Dich nicht angreifen, greife die herrschenden Cliquen an“. Dutschke erteilt Ratschläge in unverständlichem linkem Soziologensprech. „Die beiden reden aneinander vorbei. Wenn ich den Briefwechsel heute lese, weiß ich nicht, ob ich weinen oder lachen soll.“
Michael Köhlmeier hat als Student einmal eine Lesung von Rudi Dutschke besucht und in einer Pizzeria am selben Tisch mit ihm gesessen. Seine Geschichten speisen sich aus dieser Melange von Nähe und Distanz. Von der Heldenhaftigkeit des Arztes Ignaz Semmelweis erfährt er in einer altertümlichen Apotheke, im Gespräch mit Jeff und Rita Conner, deren Urgroßmutter einst von Ignaz Semmelweis gerettet wurde. Dass die Erzählung aus dem Gespräch entsteht, macht die unprätentiöse Leichtigkeit der Legenden aus.
Aber natürlich gehören zu einer Heldengestalt auch außergewöhnliche Fähigkeiten – die Ruhe und Konzentration von Lise Meitner, das unglaubliche Lügentalent von Victor Lustig oder der Geist des Pianisten Thelonious Monk, der herausfand, wie viel Gutes man einem Freund tun soll – nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel.

In walked Bud

„Ein Held der Musik war er auch, aber das weiß jeder.“ Aber weiß auch jeder, was Monk zu einem Helden der Musik macht? Es ist die selten gewordene Fähigkeit zu staunen. Man kann sie hören, etwa wenn er „In walked Bud“ spielt. „Thelonious Monk machte Musik, als ob er die Musik gerade erfände. Nein – als ob seine Finger die Musik gerade erfänden. Und manchmal zauberten seine Finger Akkorde, wie sie niemand jemals gehört hatte. Und niemand staunte über das Ergebnis mehr als er selbst.“
Liegt darin das Geheimnis der Helden? Dass wir über sie staunen dürfen? Dass dieses Staunen eine Sehnsucht in uns erfüllt? 1960 lief Abebe Bikila in Rom zum Olympia-Sieg im Marathon. Und zwar barfuß. Das war für sich schon eine Sensation, aber die verdeckte eine noch viel größere. Zweimal hatte Italien gegen Abebe Bikilas Heimatland Äthiopien Krieg geführt. Nun rannte ein schmaler Mann auf bloßen Füßen zwischen Via Appia Antica und Kolosseum zum Sieg.

Triumphmarsch

„Es war kein Marathon“, schrieb der Corriere della Sera. „Es war Aida, und der römische Straßenrand bildete den Chor.“ Gewiss, die Sportler, die Schauspielerinnen, die Musiker dominieren in diesen 30 Legenden. Eine Heldengeschichte aber – vielleicht die anrührendste – gilt einer Frau, die in aller Stille, im Gespräch mit Bäumen, das kostbarste menschliche Gut bewahrt. Es ist Truganini, einzige Überlebende eines Massakers an den Aborigines. Und nur ein einziger Mensch fragt sich ernsthaft, warum sie mit Bäumen spricht. Dieser Mann ist Mr. Robinson, und er kommt der Wahrheit nahe: „Truganini hatte für sich ein Kompendium zusammengestellt über alle Worte und alles Wissen ihres Volkes. Sie meinte, sie sei die Letzte und Einzige. Sie meinte, mit ihrem Tod werde alle Erinnerung an ,ihre Familie‘ gelöscht. Sie meinte, es gebe niemanden auf der Welt, mit dem sie sich unterhalten kann, dem sie ihre Gefühle mitteilen kann, mit dem sie fröhlich, mit dem sie traurig, mit dem sie wütend sein kann.“
Dass Truganini in ihrer überwältigenden Einsamkeit eine Sprache bewahrt und damit das Gedächtnis ihrer Familie – das ist eine Heldentat, vor der nicht nur ein Schriftsteller demütig wird. Doch auch die stille Aufmerksamkeit von Mr. Robinson ist eine Heldentat, denn er widmete seine Aufmerksamkeit einem Menschen, den andere als verwirrte Frau abtaten. Er sah in ihr die Heldin.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Oktober 2023 erschienen.

Michael Köhlmeier: Boulevard der Helden. 30 moderne Legenden, Benevento Verlag, Elsbethen 2023, 224 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-7109-0166-9, € 23, erscheint am 17.10.23