Manu Delago: „Snow From Yesterday“
Man denkt keineswegs, das sei “Schnee von gestern“ beim Anhören dieses Konzeptalbums des Tiroler Perkussionisten, Komponisten und Hang-Virtuosen Manu Delago, das er mit seinem Stamm-Bassisten Clemens Rofner, den Bläsern Christoph Pepe Auer (Klarinette), Dominik Fuss (Flügelhorn), Alois Eberl und Christina Lachberger (Posaune) und Simon Teurezbacher (Tuba), sowie dem Frauen-Gesangstrio Mad About Lemon aufgenommen hat. Zumal die entsprechende Redewendung auf Englisch „It’s all water under the bridge“ lauten würde. Als Mitproduzent scheint, wie bei früheren Veröffentlichungen, wieder der in Kanada lebende Brite Matt Robertson auf, der für den Sound-Mix verantwortlich zeichnet und als musikalischer Direktor des Cinematic Orchestra, von Arca, Anohni und vor allem von Björk bekannt geworden ist. Der isländischen Avantgarde-Elfe verdankt auch Delago seinen großen Bekanntheitsgrad, da er seit einem guten Jahrzehnt zu ihrem Stamm-Ensemble zählt und sie – wie auch die indische Sitar-Virtuosin Anoushka Shankar – auf zahlreichen Tourneen durch die ganze Welt begleitet hat.
Das verbindende Element in den elf neuen Kompositionen ist das Wasser – vom Gletscher, über den Eisberg, das Meer und den Fluss bis zum einzelnen Tropfen, im übertragenen Sinn geht’s aber auch um das stets im Fließen befindliche Leben von der Geburt bis zum Tod. Gemeinsam mit den drei Mad About Lemon-Vokalistinnen Heidi Erler, Mimi Schmid und Anna Widauer gelingt es Manu Delago auf glaubwürdige und unverkrampfte Weise Themen wie Klimakrise, Umweltzerstörung oder Artensterben herüberzubringen und sie in exzellent musizierte und stimmungsvolle Kompositionen und Arrangements zu verpacken. Gleich im Opener „Modern People“ werden die fatalen Unzulänglichkeiten und Verfehlungen des modernen Menschen in unmissverständlichen Worten aufgezeigt, allerdings von engelhaften Stimmen in traumhaft schönen Harmonien über Delagos virtuose Hang-Begleitung gesungen. Elektronischer angelegt und reichhaltiger arrangiert ist „Little Heritage“, in das Delago Samples mit der Stimme seines Großvaters integriert hat, um sich auf diese Weise anhand von Generationen dem Fluss der Zeit zu nähern. Auf „Polar Bear“ besingen Mad About Lemon in berückender Schönheit das grausame Schicksal der ihre dahinschmelzenden Habitate und Nahrungsquellen verlierenden Eisbären. Auf den Instrumentalstücken „Ode To Earth“ und „Oxygen“ kommt das perfekt harmonierende Bläserquintett voll zur Wirkung. „Stay Afloat“ wirkt gespenstisch mit den vor dem Hintergrund von Wellenrauschen und ziemlich apokalyptisch wirkenden Elektronikgeräuschen als eine Art Litanei gesungenen und zunehmend verhallenden Namen von Städten, die durch den Anstieg des Meeresspiegels vom Untergang bedroht sind. Auf „Immersion“ demonstriert Delago auf seiner neuen Zephyr-Handpan, dass sich auf der Hang nicht nur Rhythmen, sondern auch jede Menge Melodien zaubern lassen. „Slow-Mo Moving River“ will in Erinnerung rufen, dass Gletscher nichts unveränderlich Starres, sondern unendlich langsam fließende Flüsse sind – flirrende Rhythmen, unterkühlte Lyrics, teilweise hinterlegt mit Samples von brechendem Eis. Kolonialistische Plünderungen in Vergangenheit und Gegenwart werden anhand der Themse als Schiffverkehrsstraße nach London thematisiert, die Weltmetropole war ja lange Zeit Delagos Hauptwohnsitz. Und ganz zum Schluss erstrahlt der Titelsong „Snow From Yesterday” nochmals im warmen, intim wirkenden Wohlklang von Mad About Lemon – die Diskrepanzen zwischen traurigem Inhalt und schöner Form erweisen sich durchwegs als ausgesprochen reizvoll. Das hat etwas Magisches.
(One Little Independent Records)
Dieser Artikel ist bereist in der Print-Ausgabe der KULTUR März 2024 erschienen.
Konzert-Tipp: 4.3. Wiener Konzerthaus, 12.4. Altes Kino Mels, 26.4. Spielboden Dornbirn