Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Florian Gucher · 20. Okt 2023 · Literatur

Lokale Neuerscheinungen im Sommer/Herbst 2023

Lyrische Sprachspiele und debattenreiche Abrechnungen

Von kreativen Ausmalbüchern und Erzählungen über den Rentneralltag, vom Krimi mit Lokalkolorit bis zur Streitschrift über eine unreife Republik. Das Ländle hat sich in den letzten Monaten in Belletristik, Illustration wie Sachliteratur von der vielfältigen Seite präsentiert. Die neuesten Publikationen mit Vorarlbergbezug auf einen Blick:

Walter Hämmerle: „Die unreife Republik“

Auf knapp mehr als 100 Seiten eine Einschätzung zur derzeitigen Situation Österreichs als „unreife Republik“? Was der gebürtige Lustenauer Politikwissenschaftler und ehemalige Chefredakteur der Wiener Zeitung Walter Hämmerle in seinem neuen Band „Die unreife Republik“ versucht, resultiert in einer durchaus polemischen Beurteilung Österreichs als Streitschrift. Dass Leser:innen wohl zwiegespalten auf die nicht immer leichte Lektürekost reagieren, liegt dem Gegenstand selbst inne sowie dem Fakt, dass jemand das Kind beim Namen nennt: Nach gesellschaftlichen Spaltungen durch COVID-19, der Kriegsrealität, der Teuerungswelle sowie dem Klimawandel, nimmt sich der Autor jedenfalls vor, radikal das Missverhalten aufzuzeigen, dem sich Politik und Medien, aber auch Bürger:innen verantworten müssen: „Einfach mit dem Finger auf andere zu zeigen, ist nicht nur billig, sondern auch falsch“, so ein Zitat aus dem Beschreibungstext. „Die unreife Republik“ regt zum Nachdenken und Handeln an.

Walter Hämmerle: Die unreife Republik. Zum Zustand Österreichs. Leykam, Graz 2023, 112 Seiten, ISBN 978-3-7011-8307-4, € 14,50
Buchpräsentation: 21.10.23, 19.30 im Theater am Saumarkt, Feldkirch

FLINTA*-Lyrikanthologie österreichischer Autor:innen: „habe bewurzelte stecklinge“ 

„habe bewurzelte stecklinge“ nennt sich die erste FLINTA*-Lyrikanthologie mit Texten von 35 Autor:innen. Der Titel der von Raoul Eisele und Lea Menges herausgegebenen Publikation ist Programm: In Analogie zu den vielen marginalisierten Stimmen queerer und non-binärer Personen werden hier metaphorisch Wurzeln geschlagen, die in textuelle Gebilde ausufern, sich verschränken und behutsam nach links und rechts ausgreifen. Die Anspielung auf das Innere der Wurzeln bezieht sich nicht zuletzt auf die Situation der Personen selbst, die sich aus Angst verstecken – vielleicht auch noch nie heraus aus dem Dunkeln kommen konnten – und unsichtbar im Inneren weiterwuchern, ohne Ort der Heimkehr und ständig auf der Suche nach ihrem Platz. Symbolisch gesagt haben bewurzelte Stecklinge brüchigere Wurzeln, sodass man mit Umsicht beim Eintopfen umgehen sollte, um sie nicht zu beschädigen oder zu zerstören – quasi ein Aufruf an die Gesellschaft zu mehr Toleranz. Metaphorisch kann das Wurzeln aber auch auf das Verhältnis von Bild und Text übertragen werden, weil die einzelnen Worte und Sätze auskeimen und erst ein Bild im Kopf entstehen lassen. In weiterer Folge ist es die Verflechtung, die aus der Kombination der einzelnen Beiträge zum Gesamtwerk spricht: Kurze versammelte Gedichte, Epigramme und andere Texte lyrischer Art gehen auf Suche nach den Wurzeln der eigenen inneren Sprache, um das Keimen, Hoffen, Warten und Bangen der Protagonist:innen, die von Ausschluss und Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung betroffen sind, auf den Punkt zu bringen. „habe bewurzelte Stecklinge“ fungiert dabei wie eine Klammer, in der die poetischen Stimmen wurzeln und zusammenfinden. Im Buch vertreten sind mit Erika Kronabitter, Katharina Klein und Sarah Rinderer auch drei Vorarlberger Autor:innen.

FLINTA*-Lyrikanthologie österreichischer Autor:innen, habe bewurzelte stecklinge, Hrsg. v. Lea Menges und Raoul Eisele, edition lex liszt 12, Wien September 2023, 153 Seiten, ISBN 978-3-99016-250-7

Edith Meusburger: „Das letzte Viertel“

Mit „Das letzte Viertel“ hat sich die pensionierte Lehrerin Edith Meusburger ihren Traum vom eigenen Buch erfüllt. Vollgespickt mit Erzählungen aus dem Pensionist:innenleben versammelt der Band Erzählungen, die ihren Ausgangspunkt in eigenen Erlebnissen haben, dann aber den Schwenk in die Fiktion vollziehen. So wählt Meusburger nicht nur Tatsachen aus dem Leben, die sie gerne auch überzeichnet wiedergibt und ins Absurde driften lässt, sie vermischt auch gerne Dinge und Personen, die mal der Realität entlehnt sind, dann wiederum der Fantasie oder dem Traum entstammen. Das kann beispielsweise eine Begegnung mit einem alten Bekannten beim Schifahren sein, wie sie dann literarisch in einer Art neuen Ausflucht in die Jugend mit schmerzlichem Ausgang mündet. Meusburgers Anliegen ist es, Ängste, Sorgen aber auch Bedürfnisse der Generation zum Ausdruck zu bringen, die oftmals vergessen wird: „,Das letzte Viertel‘ möchte Themen der älteren Leute benennen dürfen. Das Spektrum reicht von humorvollen Begebenheiten über kleine und größere Wehwehchen, Einsamkeit und Sehnsucht und mündet im Tod. Das alles darf und soll ausgesprochen werden, ich möchte es nicht tabuisieren“, so die Autorin in einem Gespräch mit der KULTUR. Versehen ist der Band übrigens von an die Geschichten anknüpfenden Zeichnungen der Grafikerin Miwa Nishino Meusburger, die ein visuell-sprachliches Wechselspiel initiieren und den Sätzen gegenüberstehen, um das ergänzend beizufügen, was das Wort nicht auszudrücken vermag.

Edith Meusburger: Das letzte Viertel. Erzählungen von und für Menschen im letzten Viertel ihres Lebens. Buchschmiede, Wien 2023, 120 Seiten, Taschenbuch, ISBN 978-3-99152-195-2, 12 €

Günther Freitag: „Den Wald vor lauter Bäumen ...“

An der Schwelle zwischen Realität und Fiktion bewegt sich der Roman des gebürtig aus Feldkirch stammenden Autors Günther Freitag mit dem Titel „Den Wald vor lauter Bäumen ...“ Dem bekannten Sprichwort entsprechend sehen die Figuren des Buches mehr als nur einmal den Wald vor lauter Bäumen nicht, wenn sich die nicht abzuschüttelnde, eigene Vergangenheit mit einer fremden Welt voller unbekannter Regeln tangiert. Zum einen ist da der Protagonist Oskar, der im Süden Europas eine Baustelle leitet und mitten hinein in mafiöse Verstrickungen gerät. In diesem Zwiespalt gefangen, trifft er als Alter Ego seine traumatische Kindheit wieder. Ein autoritärer Großvater, ein Gefängnis im Jugendstilhotel sowie die (geistige) Wiederbegegnung mit seinem vermissten Bruder bringen alles aus den Fugen und spuken in seinem Kopf wie ein nicht loszuwerdender Geist herum. Was ist real, was erfunden? Die Verstrickung von Erinnerung, Eingebung und aktuellem Erleben in diesem chronologischen Chaos hievt auch für Leser:innen die Frage empor, welche Geschichten letztlich aus welchen Sphären entspringen. Einem Wimmelbild entsprechend, macht dieser literarische Clou der Vermischung unterschiedlicher Orte, Zeit-, Handlungs- und Gedankenebenen die fast schon banal anmutende Story zum verschachtelten Lesehorrortrip. Die Besonderheit: Sobald man einen Anknüpfungspunkt gefunden hat, entzieht er sich wieder. Das haltlose, nicht stoppen wollende Gedankenkarussell macht einen wirr, aber die Lektüre zum fesselnden Erlebnis.

Günther Freitag: Den Wald vor lauter Bäumen … Wieser Verlag, Klagenfurt 2023, 250 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-99029-589-2, € 24,95

Jürgen Burger: „Der Pionier des 7. Grades“

Lektüre für Bergfexen gibt es mit der Buch-Neuerscheinung „Der Pionier des 7. Grades“. Darin werden Erlebnisse des Bergsteigers Ernst Burger anhand eigener Tagebucheinträge sowie Briefe von Kamerad:innen, herausgegeben von seinem Enkel Jürgen Burger, versammelt. Beginnend im Jahre 1925 mit den ersten Touren gilt es, die Zeit mit zu bedenken: Gipfel und Wege waren weniger erschlossen, Bergsteigen risikoreicher als heutzutage. Bemerkenswert ist daher, was Burger auf sich nahm, um Pionier der Erschließung unbegangener Routen zu werden. Nebenbei liefert das Werk auch authentisch Zeugnis vom literarischen Engagement Ernst Burgers, der mit insgesamt 91 Gipfelbesteigungen und zwei Erstbegehungen – darunter die erste Begehung der Südwand des Großen Drusenturms 1933, die Bezwingung des Mont Blanc oder eine Ortler-Begehung – nicht nur als einer der bedeutendsten, doch kaum bekannten Vorarlberger Alpinisten gilt. Das Buch demonstriert, dass der drahtige Bergsteiger auch ein bemerkenswerter Autor im stillen Kämmerchen, oder in seinem Falle in stillen windigen Höhen, war. Die Publikation schätzt ihn und sein Wirken und Werken – auf alpinistischer wie literarischer Ebene.

Jürgen Burger: Der Pionier des 7. Grades. Erstbegehungen und 91 Viertausender des Vorarlberger Alpinisten Ernst Burger. Buchschmiede, Wien 2023, 265 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-99152-145-7, € 17,50

Anna Stemmer-Dworak: „Vorarlberg. Das Ausmalbuch“

„Vorarlberg. Das Ausmalbuch“ heißt der Titel der vom Tyrolia-Verlag in Kooperation mit dem vorarlberg museum herausgegebenen Publikation Anna Stemmer-Dworaks. Dabei lässt sich neben dem Akt des Malens einiges über Land und Leute sowie Brauchtum und Sagengut lernen. Mit kurzen Texten versehen, legen die Zeichnungen Infos zum Ursprung des Alpabtriebs, der Tradition des Funkenfeuers aber auch zu Städten wie Bludenz oder Bregenz offen. Die Illustratorin, die im Großen Walsertal aufwuchs und nun wieder in Vorarlberg lebt, ist bei Ausstellungen Bildender Kunst im In- und Ausland beteiligt und spezialisierte sich zuletzt immer mehr auf Illustration. Das Buch selbst wird wohl nicht nur Kinder erfreuen, sondern auch Erwachsene und Kunstliebhaber. In seinem künstlerischen Wert ordnet es sich in die Reihe eines ansehnlichen Grafikbandes ein.

Anna Stemmer-Dworak: Vorarlberg. Das Ausmalbuch. Tyrolia, Innsbruck 2023, 64 Seiten, Taschenbuch, ISBN 978-3-7022-4144-5, € 19

Krimi-Anthologie: „MordsSchweiz 2“

Mord und Totschlag gibt es in der Krimifestival-Anthologie „MordsSchweiz 2“. Hinzu gesellt hat sich der Liechtensteiner Armin Öhri, der bereits eine Reihe an Kriminalgeschichten verfasst hat, unter anderem den mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichneten Roman „Die dunkle Muse“. Nun hat er sich in seinem Kurzgeschichtenbeitrag für die Anthologie mit dem Titel „Masterplan“ der gesellschaftlichen Realität in Zeiten von Corona gewidmet. Verschwörungstheorien, gesellschaftliche Brüche und mittendrin kriminalgeschichtliche Ermittlungen – und viel Lokalkolorit: Öhri bringt gesellschaftliche Realität und phantastische Mordgeschichte zusammen.

Paul Ott, Barabara Saladin (Hrsg.): MordsSchweiz 2, Krimis. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2023, 320 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-8392-0496-2, € 15

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Oktober 2023 erschienen.