Ethan Coen hat seinen ersten Spielfilm als Soloregisseur gedreht: „Drive-Away Dolls“. (Foto: Focus Features)
Markus Barnay · 16. Mär 2020 · Literatur

Zwei grundverschiedene „Annäherungen“ an NS-Opfer

Gleich zwei Bücher wurden Anfang dieses Jahres präsentiert, die an aus Vorarlberg stammende NS-Opfer erinnern. Die beiden, Hugo Paterno und Georg Schelling, weisen interessante Gemeinsamkeiten auf – jedenfalls in Hinsicht auf die Ursachen ihrer Verfolgung durch die NS-Behörden: Beide waren sie tief gläubig, beide unterstützten sie vor 1938 aktiv die katholisch-konservative Diktatur, beide gerieten sie deshalb ins Visier der Nationalsozialisten. Dann hören die Gemeinsamkeiten aber auch schon wieder auf, denn Georg Schelling überlebte die KZ-Haft in Dachau und Buchenwald, während Hugo Paterno 1944 in München-Stadelheim hingerichtet wurde. Keinerlei Gemeinsamkeit gibt es auch zwischen den jetzt erschienenen Büchern – die könnten unterschiedlicher nicht sein, obwohl in beider Untertitel von „Annäherungen“ die Rede ist.

„Welscher“ Aufsteiger aus Bludenz

„So ich noch lebe...“ heißt Wolfgang Paternos Buch, und er zitiert dabei aus einem Brief seines Großvaters Hugo, den er aus dem Gefängnis an seine Frau schrieb. Der in Lustenau aufgewachsene „profil“-Redakteur Paterno hat vor zehn Jahren begonnen, der Geschichte seines Großvaters nachzuspüren. Hugo Paterno, in Bludenz geborener Sohn eines aus dem italienischsprachigen Valsugana stammenden Paares, das in Bludenz ein Lebensmittelgeschäft führte, schaffte den Aufstieg: Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er als Kaiserjäger für die österreichisch-ungarische Monarchie ins Feld zog, arbeitet er kurze Zeit bei der Brauerei Fohrenburger, ehe er in die Zollwache aufgenommen wird und als Beamter zuerst der demokratischen Republik, dann der Dollfuß-Diktatur und schließlich dem NS-Staat dient. Er steigt bis zum Zollamtsleiter auf und heiratet 1930 in eine angesehene Lustenauer Familie ein – für einen „Welschen“ der zweiten Generation ein erstaunlicher Werdegang.
Hugo Paterno hat in den Augen der fanatischen Nationalsozialisten, die als Hilfskräfte beim Zoll arbeiten und ihren Posten nur der Partei verdanken, aber einen unverzeihlichen Makel: Er ist tief gläubig und achtet seinen himmlischen Herrscher weit mehr als den neuen, weltlichen Herrscher, den rundherum alle anhimmeln. Das wird ihm zum Verhängnis: Dreimal wird er im Lauf der Jahre denunziert – zuerst in Gaißau, wo ein Untergebener meldet, er habe während der Dienstzeit die Kirche besucht (was Paterno energisch dementiert), dann in Lustenau, wo ein weiterer Hilfsgrenzangestellter Wochen nach einem Gespräch meldet, Paterno habe bezweifelt, dass „die Deutschen“ den Krieg gewinnen (Paterno widerspricht auch diesmal), und schließlich in Tirol, wohin er nach der Lustenauer Denunziation versetzt worden war. Dort soll er nach einer Kontrolle in einem Kiosk „staatsfeindliche Äußerungen“ getätigt haben. Schon zuvor hatte die örtliche NSDAP seinen Beitrittsantrag abgelehnt, weil er durch seine „absolut feindliche Einstellung gegenüber dem deutschen Volke, dem Staate, Führer und der Partei“ aufgefallen sei.

Der „Opa ohne Kopf“

Hugo Paterno wird im Mai 1944 vom Volksgerichtshof in Berlin wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tod verurteilt und im Juli in München-Stadelheim geköpft. „Guillotiniert“ hieß es im Hause Paterno nach dem Krieg, aber viel mehr erfuhr der Enkel Wolfgang nicht. Er hatte einen „Opa ohne Kopf“, über den aber kaum einmal gesprochen wurde – vielleicht auch nicht gesprochen werden durfte, meint Paterno heute. Schließlich lebte man in Lustenau, wo nach 1945 Menschen wie der ehemalige Ortsgruppenpropagandaleiter der NSDAP, Hans Sperger, Gemeinderat und Vizebürgermeister werden konnten und wo die FPÖ von 1960 bis 2010 den Bürgermeister stellte. Jedenfalls begann Wolfgang Paterno 2010 mit der Recherche, die er in seinem Buch schildert: eine „Annäherung an den Großvater“, so der Untertitel, die bis heute nicht vollendet ist. „Ich habe zum Beispiel nie herausgefunden, wie groß der Opa eigentlich war“, erzählt Wolfgang Paterno, aber vor allem gab es keine Zeitzeugen mehr, die Antworten auf offen gebliebene Fragen geben konnten. Die Nachkommen der damaligen Denunzianten wiederum verweigerten das Gespräch oder bedauerten sehr, gar nichts über den Fall zu wissen.
Wolfgang Paterno gelingt in seinem Buch eine spannende Darstellung sowohl seiner eigenen Spurensuche wie auch der tragischen Ereignisse, über die bislang nur ganz wenige Informationen öffentlich bekannt waren. Er verhehlt aber auch nicht, dass ihm der Großvater in mancher Hinsicht fremd blieb, etwa wenn es um die tiefe Religiosität geht, die ihm einerseits wohl tatsächlich zum Verhängnis wurde, die ihm aber andererseits auch half, das himmelschreiende Unrecht der NS-Justiz erstaunlich gefasst hinzunehmen. Das lassen jedenfalls die Briefe vermuten, die er aus dem Gefängnis an seine Frau und seine vier Kinder nach Lustenau schrieb: „Du, liebe Marie, vertrau auf Gott; er hilft Dir sicher weiter!“, hieß es in seinem Abschiedsbrief am Tag seiner Hinrichtung.

Priester, KZ-Häftling, Journalist

Auf Spurensuche begaben sich auch Wolfgang Weber und sein Sohn Linus in ihrer Abhandlung über Georg Schelling, den aus Buch stammenden Priester, der von 1938 bis 1945 in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald interniert war und es in Dachau bis zum Lagerkaplan und später -dekan brachte. Ein Aufstieg, der in diesem Fall nicht das Leben kostete, sondern wohl eher rettete. Schellings Geschichte ist im Großen und Ganzen bekannt, seit Jakob Fußenegger 1991 dessen „200 Briefe aus dem KZ“ publizierte: 1901 in Buch als Sohn eines Ferggers geboren, maturierte Georg Schelling im Collegium Bernardi in Bregenz, besuchte anschließend das Priesterseminar in Brixen und wurde schließlich 1930 zum Priester geweiht. Nach einem dreijährigen Einsatz als Pfarrhelfer in Hohenems wurde er 1934 zum Chefredakteur des katholisch-konservativen „Vorarlberger Volksblatts“ und verteidigte in dieser Funktion nicht nur die austrofaschistische Diktatur, sondern warnte auch nach eigenem Bekunden „vor dem Nationalsozialismus“.
Nach dem „Anschluss“ im März 1938 wurde Georg Schelling – gemeinsam mit dem Dornbirner Gendarmeriekommandanten Hugo Lunardon – in „Schutzhaft“ genommen und in das KZ Dachau überstellt. Dort kam er ab 1941 in den Genuss von Hafterleichterungen, die katholischen Priestern und Ordensangehörigen aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem NS-Staat und dem Vatikan zugestanden wurden. Dennoch musste er wie die anderen Verschleppten Zwangsarbeit verrichten. Schelling überlebte das Lager, zuletzt als Lagerdekan, und wurde im April 1945 entlassen. Nach dem Krieg arbeitete er zunächst als Kaplan in Bregenz, Lauterach und Altach, ehe er die Stelle als Pfarrer von Nenzing antrat, wo er von 1947 bis 1981 amtierte. Nebenher betätigte sich Schelling weiterhin publizistisch, etwa mit seinem Buch über das Kriegsende in Vorarlberg („Festung Vorarlberg“, 1947), aber auch mit einer Polemik über die „Fremden“, die von den Nationalsozialisten nach Österreich verschleppt worden waren, von denen die „Mehrzahl ... Schmarotzer“ seien (gemeint waren wohl nicht nur die ehemaligen Zwangsarbeiter, sondern auch andere Flüchtlinge wie die jüdischen KZ-Überlebenden).

Nebensächliche Details statt Fakten

„Georg Peter Schelling – ein Priesterleben im Dienen und im Widerstand“ heißt einer der Zwischentitel in der Abhandlung der beiden Webers. Worin dieser Widerstand bestand, wird allerdings auch bei mehrfacher Lektüre des Aufsatzes nicht klar. Denn weder in diesen 110 Seiten noch in Schellings eigenen Erinnerungen, die er zum 100-Jahr-Jubiläum des „Vorarlberger Volksblattes“ 1966 schrieb und die im jetzt vorliegenden Buch wieder abgedruckt wurden, gibt es einen einzigen Beleg für seine Tätigkeit, die ihn in den Augen der Nazis zum „gehässigen Gegner der NSDAP“, so eine von Weber/Weber zitierte zeitgenössische Quelle, machten. Natürlich stimmt es, dass die Zeitungen zu jener Zeit auf die Namensnennung der Redakteure verzichteten und daher kaum ein Artikel namentlich zuordenbar ist (ausgenommen sein erster Leitartikel über den Tod des deutschen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 3. August 1934, den er immerhin mit „Sch.“ signieren durfte). Andererseits erhalten die Leser im Artikel von Weber/Weber aber allerlei nützliche Informationen wie die Höhe des Kirchturms des Brixner Vinzentinums, Details aus den Publikationen von Lehrern, die einstmals dort unterrichteten, oder auch so wichtige Informationen wie die Kosten für den Neubau des Schulhauses von Buch. Wir erfahren auch Details über die frühere NSDAP-Parteizugehörigkeit von Bürgern der Gemeinden, in denen Schelling nach 1945 wirkte. Das hat zwar weder mit Schelling noch mit seiner Arbeit viel zu tun, erlaubt aber Hinweise auf frühere Publikationen des „Gastprof. (FH) Priv.-Doz. Mag. Dr. MA, MAS“ Weber. Es wäre also durchaus zu erwarten gewesen, dass die Autoren vielleicht auch das eine oder andere Detail aus der publizistischen Tätigkeit von Georg Schelling ausgegraben hätten, und seien es nur Belege für die „deutliche Verurteilung des Nationalsozialismus als Terrorismus“, die ihm ja schließlich die KZ-Haft eingebrockt haben sollen. Das ist den beiden aber offenbar nicht gelungen. Dafür wissen wir aber jetzt, welche Aufgaben Schelling in seiner Latein-Matura bewältigen musste.

Überleben = Widerstand?

Aber zurück zum „Widerstand“: Georg Schelling, der nach 1945 in Aussagen vor Gericht SS-Wachpersonal aus dem KZ entlastete, dafür aber kommunistischen Mithäftlingen „eine gewisse Mitschuld an den zahlreichen Todesfällen“ unterstellte, dieser Georg Schelling leistete also Widerstand – und zwar im KZ Dachau: „Dort bewies er individuell durch sein Überleben und kollektiv durch die Einrichtung und dann Erhaltung einer katholischen Lagerkapelle, die ökumenisch genutzt wurde, dissidenten ebenso wie oppositionellen Widerstand“ (Weber/Weber S. 124). Diese Form des Widerstands kann das andere hier erwähnte NS-Opfer, Hugo Paterno, leider nicht für sich in Anspruch nehmen: Er überlebte nicht.

Markus Barnay ist Redakteur des ORF-Landesstudios Vorarlberg

Wolfgang Paterno: „So ich noch lebe …“ Meine Annäherung an den Großvater. Eine Geschichte von Mut und Denunziation. Haymon Verlag, Innsbruck 2020, 304 Seiten, ISBN 978-3-7099-7289-2, €24,90

Archiv der Diözese Feldkirch (Hg.): Msgr. Georg Schelling (1906–1981). Annäherungen an eine Priesterbiographie. Band 8 der Schriftenreihe des Archivs der Diözese Feldkirch, Feldkirch 2019, 324 Seiten, €19, erhältlich bei der Medienstelle der Diözese: medienstelle@kath-kirche-vorarlberg.at