Vom Glück der Einfachheit - „Schweben“ - der dritte Roman von Jürgen-Thomas Ernst
Welche Momente machen ein Leben letztlich zu einem sinnerfüllten? Was bedeutet Glück angesichts der Tatsache, dass wir alle sterblich sind? Worauf kommt es wirklich an? Von existenziellen Fragen grundiert ist das neue Buch des 1966 in Lustenau geborenen Schriftstellers, Försters und Waldpädagogen Jürgen-Thomas Ernst. Nach „Anima“ (2010) und „Vor hundert Jahren und einem Sommer“ (2015) ist „Schweben“ der dritte Roman von Ernst, der Anfang August im Braumüller Verlag erscheint.
Sozial benachteiligte Außenseiter prägen das Werk von Jürgen Thomas Ernst. In seinem Debüt „Anima“ heißt er Anselm Ender. Dieser wird 1866 in triste Verhältnisse hineingeboren und von der Gesellschaft gemieden. Doch er verfügt über ein besonderes Talent, das Laufen - und erinnert an Johannes Elias Alder aus Robert Schneiders Bestseller „Schlafes Bruder“. Im Nachfolgeroman „Vor hundert Jahren und einem Sommer“ erzählt Jürgen-Thomas Ernst die Lebensgeschichte einer jungen Frau, die als Pflegekind im sogenannten Dorf der Kirschen aufwächst und – wie Anselm Ender – mit dem Signum des Besonderen ausgestattet ist. Bei ihr besteht dieses in einem unbändigen Lebenswillen und einem geradezu herausragenden Mut.
Wortkarg, nachdenklich, hochsensibel
Diesmal begleitet Jürgen-Thomas Ernst einen wortkargen, nachdenklichen, hochsensiblen Mann namens Josef durch dessen Leben. Er wächst in den 1940er und 50er Jahren in einem steirischen Dorf auf und begeistert sich für Motoren. In seiner Kindheit erlebt er noch die Ausläufer des zweiten Weltkriegs und die Angst der Dorfbevölkerung vor den Russen. Im nächsten Kapitel ist Josef bereits dreizehn Jahre alt. „Der Mechaniker“ zieht ins Dorf; ein sonderbarer Mensch, der mit niemandem spricht, aber über eine Werkstatt verfügt, in die es den Jungen immer wieder zieht. Er beginnt eine Mechanikerlehre, bricht sie aber nach einer Woche wieder ab, weil er von einem Gesellen beschimpft wird. Mit achtzehn kauft Josef von dem Geld, das er sich mit Hilfsarbeiten verdient hat, ein beschädigtes Moped und repariert es. Zum ersten Mal erlebt er so etwas wie Glück. „Langsam fuhr er auf dem gekiesten Weg entlang, bog auf die asphaltierte Straße ab und gab Gas. Er spürte den Fahrtwind, der seine Haare zurückkämmte und die Jacke zum Flattern brachte und gleichzeitig schnaubte der Motor.“ Die Dorfbevölkerung bringt Josef ebenso wenig Verständnis entgegen wie der Vater, der beim Sohn ein „Kuckucksei“ befürchtet. Doch dieser bleibt sich treu. Er heuert bei einer Firma als Lastwagenfahrer an und kauft – als das Geld reicht - einen bordeauxroten Topolino, den er wieder auf Hochglanz bringt.
1961 erlebt er eine schicksalshafte Begegnung; bei einem Jahrmarkt an einem heißen Abend im Sommer. „Sie stand vor dem Autodrom. Zuerst sah er nur ihren Rücken, ihre schlanken Beine und ihr langes, flachsblondes Haar. Sie trug ein ärmelloses Kleid, das der Farbe von Buchenblättern im Frühling glich.“ Sie heißt Rosa und arbeitet als Kellnerin. Sie ist seine erste und einzige große Liebe. Sie sprechen wenig, aber unternehmen lange Spaziergänge. „Dann versanken sie wieder in ein langes Schweigen und überließen das Erzählen den Grillen in den Getreidefeldern und den Vögeln im nahen Wald.“
Ohne große Worte und Gesten
Schlicht, aber eindringlich erzählt Jürgen-Thomas Ernst von einem glücklichen Leben zu zweit in allergrößter Einfachheit. Rosa und Josef lieben einander ohne große Worte und Gesten mit einer Selbstverständlichkeit und Achtsamkeit, die zu Herzen geht und nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. Als Josef in einer Zeitung die Anzeige einer Textilfirma im Westen liest, die Arbeitskräfte sucht, verlassen die beiden ihre Heimat für immer. In ihrem ersten Zimmer im Westen funktioniert keine Heizung, das Bett ist hart, der Hunger drückt. Zu Weihnachten gönnen sie sich den Luxus, den Wein aus ihrer Heimat aus Wasserbechern zu trinken. In der Firma bürstet Josef Kunststofffässer sauber, Rosa muss Webfehler aufspüren. Trotz der Eintönigkeit der Arbeit sind sie zufrieden, denn sie haben ja einander, und sie lieben sich!
Am Ende des Romans ist Josef alt, pensioniert und einsam. Im Rückblick – in ein Selbstgespräch versunken – wird ihm klar, was die schönsten Tage seines Lebens waren: „Ihr ruhiger Atem und ihr Gesicht, das du oft betrachtet hast, wenn sie schlief. Der Hunger und die Freude, wenn er gestillt wurde. Die Kälte im Zimmer und die Wärme unter der Decke.“
Jürgen-Thomas Ernst, Schweben, Gebundene Ausgabe, 200 Seiten, € 20,- Braumüller Verlag 2017, ISBN 978-3992001897