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Karlheinz Pichler · 15. Jun 2021 · Literatur

Sehr spezieller Gedenkort für den „Meister des Kreuzstiches“ Ferdinand Nigg

Inmitten einer bedeutsamen städtebaulichen Konstellation, eingebettet zwischen Kathedrale und Regierungsgebäude samt Landesarchiv, vor dem Standesamt und gegenüber der Musikschule, steht seit rund eineinhalb Jahren in Vaduz eine begehbare Skulptur, die dem großen Liechtensteiner Textilkünstler Ferdinand Nigg gewidmet ist. Bereits im Dezember 2019 wurde dieser Erinnerungsort ganz in der Nähe der Gedenkstätte für den Musiker Joseph Gabriel Rheinberger ohne großes Trara eröffnet. Jetzt, mit dem Erscheinen einer vom Architekten Florin Frick und dem Künstler Martin Frommelt in Zusammenarbeit mit dem Buchkünstler Hansjörg Quaderer erarbeiteten Publikation zu diesem Ort, erhält das Ganze sozusagen Öffentlichkeitscharakter und die Würdigung, die dem Ort gebührt.

Der aus Vaduz stammende, stickende Künstler Ferdinand Nigg (1865-1949), dessen Werk genauso autark, eigenwillig wie auch kurios erscheint, gilt als vielleicht wichtigster Beitrag Liechtensteins zur Moderne. Dabei wäre sein Werk beinahe in Vergessenheit geraten, wenn nicht Einzelpersonen dessen Bedeutung erkannt und für die Nachwelt gesichert hätten. Kanonikus Anton Frommelt, ein Freund Niggs, war es, der 1949 zusammen mit den Erben den Nachlass registrierte und das Land Liechtenstein sowie Private zur Übernahme einiger Werke bewegte. 1950 verfasste Frommelt auch die erste Biografie. 1965 folgte eine Gedenkausstellung in Balzers mit Katalog. Nachforschungen über den Verbleib der bei der Erbteilung in die USA überführten Werke ließen Alexander Frick, Martin Frommelt, Robert Allgäuer und Noldi Frommelt (beraten von Kanonikus Frommelt) 1968 die „Professor Ferdinand Nigg Stiftung“ Schaan gründen. Durch den engagierten, kulturellen Einsatz dieser Stiftung und der Kanonikus Frommelt Stiftung Vaduz konnte das Œuvre gesichert und in Zusammenarbeit mit verschiedenen AutorInnen kunstgeschichtlich dokumentiert werden. Damit konnte die Bedeutung Niggs entscheidend ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt werden, auch durch Vorträge, Publikationen und Ausstellungen (1976 München, 1985 Vaduz, 1986 Köln, 1990 und 1993 Magdeburg, 2015/16 im Kunstmuseum Liechtenstein etc. samt dazu erschienen Katalogen). Nigg jedenfalls trug entscheidend zur „Neuen Form“ im Aufbruch der Moderne im Fürstentum bei, und er stellt heute auch einen unverrückbaren Faktor in der Identität des Landes dar.
Nigg gehörte zu denjenigen Künstlern, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Stickerei als künstlerisches Medium entdeckten und für die Umsetzung moderner Gestaltungsprinzipien einsetzten. Nach seiner Ausbildung in Zürich und einer Zeit freien künstlerischen Schaffens in Berlin wurde er 1903 als Professor für Buchgewerbe und Textil an die fortschrittliche Kunstgewerbe- und Handwerkerschule in Magdeburg berufen. Hier, in der Hochblüte seines öffentlichen Schaffens, wirkte er im Vorfeld des Deutschen Werkbundes als Gestalter an der Schnittstelle von Künstlerentwurf und industrieller Produktion. Von 1912-1931 unterrichtete der Künstler, für den unter anderem der „Kreuzstich“ zum formalen Markenzeichen wurde, an der Kunstgewerbeschule in Köln und wurde der erste Inhaber des Lehrstuhls für Paramentik (Textilien im kirchlichen Bereich).

An der Schnittstelle zwischen Skulptur, Architektur und Form

Für den liechtensteinischen Repräsentanten der kunstgeschichtlichen Moderne stand schon seit vielen Jahren eine adäquate Würdigung in Form eines Denkmals im Raum. Schon 1965 schrieb Kanonikus Anton Frommelt als Schlusssatz im Katalog zur ersten Nigg-Ausstellung von 1965: „... soviel sind wir dem Künstler und der guten Sache schuldig. Das Denkmal hat sich der Künstler selbst geschaffen, es aufzurichten ist unsere Sache.“ Die Realisierung desselben musste allerdings bis in die Gegenwart harren.
Der jetzigen Lösung, für deren formale Umsetzung der Architekt Florin Frick sowie der Grandseigneur der Liechtensteiner Kunstszene, Martin Frommelt, verantwortlich zeichnen, gingen zahlreiche Gespräche zwischen Vertretern der Ferdinand-Nigg-Stiftung und der Gemeinde voraus. Laut Frick und Frommelt kamen das Geburtshaus von Nigg, das Haus seines Aufwachsens sowie ein von ihm später errichtetes Haus als Gedenkort nicht in Frage, weil sich alle drei Bauten in Privatbesitz befänden und damit bestenfalls Gedenktafeln möglich gewesen wären. In der Folge habe man auf der Suche nach einem geeigneten Ort mehrmals das „Städtchen“ durchschritten. Kurz vor der Aufgabe habe sich dann der Glücksfall des nunmehrigen Standortes ergeben: Ein verwilderter kleiner Park, in dem ein Biotop geplant war, in zentraler Lage. Florin Frick dazu: „Einerseits konnte innerhalb der bestehenden alten Gartenmauer, die heute als Sitzfläche dient, eine Platzfläche mit der Denkmal-Skulptur in der Mitte geschaffen werden. Ferdinand Nigg erhielt dadurch nicht nur eine Skulptur, sondern auch einen eigenen Platz, den Ferdinand-Nigg-Gedenkort.“
Häuser stellen im Werk von Ferdinand Nigg ein immer wiederkehrendes Motiv dar. Daraus ableitend entwarfen Frick und Frommelt eine begehbare Skulptur, die formal an ein stark abstrahiertes Gebäudefragment erinnert. Eigentlich ist es eine aus Beton gefertigte Winkelskulptur mit Dach, die nach unten zur Hauptstraße hin wie ein geschlossenes Außen wirkt und sich nach oben hin öffnet und einen Innenraum freigibt. Laut den beiden Schöpfern soll der „Deckel“ den Rechteckgrundriss des Gehäuses abzeichnen, wobei die beiden fehlenden Wände nicht nur dessen Begehbarkeit ermöglichen sollen, sondern auch wesentlich den unbekannten Seiten Niggs geschuldet seien. Das Dach weist zudem Öffnungen auf, die den Blick zum Himmel ermöglichen, sowie ornamentale Verdichtungen und Verjüngungen. Formal habe man sich damit an ein Grundmuster im Werk von Ferdinan Nigg angelehnt, so Frick und Frommelt. Ein Muster, das einen Wechsel zwischen fragiler Durchlässigkeit und opaker Festigkeit vermittelt.
Grundsätzlich besteht diese skulpturale Architektur aus drei verschieden strukturierten Tafeln, die nicht wie bei einem Kartenhaus aneinandergestellt oder übereinandergelegt, sondern miteinander homogen verbunden respektive verwachsen sind.
Zu erwähnen bleibt, dass dieser Gedenkort auch stark mit einer anderen begehbaren Skulptur korrespondiert, die ebenfalls von Frick und Frommelt geschaffen wurde, und die sich ein paar Hundert Meter weiter oberhalb in der Nähe des Friedhofs im Wald befindet. Die als „Spannieu“ bezeichnete Arbeit – der Titel leitet sich aus dem gleichnamigen Flurnamen ab, der soviel wie „Ort der Dornen“ bedeutet – ist ebenfalls aus Beton gefertigt und nach einer Seite hin offen. Es ist ein stiller Ort der Meditation, dessen Innenseite mit farbigen Email- und Kupfertafeln von Martin Frommelt ausgestaltet ist. Ein Ort, den es sich aufzusuchen lohnt.

Das Heft zum Ferdinand-Nigg-Gedenkort, Vaduz, erscheint am 18. Juni 2021. Erhältlich in allen Buchhandlungen Liechtensteins.