Ethan Coen hat seinen ersten Spielfilm als Soloregisseur gedreht: „Drive-Away Dolls“. (Foto: Focus Features)
Ingrid Bertel · 23. Mär 2020 · Literatur

Schönheit als Last - Monika Helfers neuer Roman „Die Bagage“ erzählt von einer Familie, die ziemlich viel zu tragen hat

Hoch in den Bergen, ganz am Ende eines Tals, das alle nur den „Wald“ nennen, lebt im Jahr 1914 eine Familie, deren Mitglieder alle schön sind. Die schönste aber ist Maria, und weil sie nichts hat außer ihrer Schönheit, ist ihr Leben gefährlich. Im Dorf unten wird die Familie „die Bagage“ genannt. „Das stand damals noch lange Zeit für ,das Aufgeladene‘, weil der Vater und der Großvater von Josef Träger gewesen waren, das waren die, die niemandem gehörten, die kein festes Dach über dem Kopf hatten, die von einem Hof zum anderen zogen und um Arbeit fragten und im Sommer übermannshohe Heuballen in die Scheunen der Bauern trugen, das war der unterste aller Berufe, unter dem des Knechtes.“ Bagage – das ist das französische Wort für Gepäck. Aber wenn jemand so schön ist wie Maria, kann und wird Mann sie dann als Gepäcksstück behandeln?

Josef muss als Soldat in den Krieg, und das bedeutet für Maria und die Kinder noch drückendere Armut. Brot gibt es nicht mehr im Haus, auch keinen Speck oder Käse. Manchmal bringt der Bürgermeister eine Gabe. Was ist der Preis dafür? Manchmal hilft der großzügige Postadjunkt aus. Und dann kommt Georg aus Hannover. Maria träumt von ihm, träumt sich in eine elegante Stadtwohnung „und in ihrer Aufregung fiele das Schampanierglas um. Sie wusste nicht einmal, wie man ,Champagner‘ schreibt. Georg zöge ihr das Kleid über den Kopf, ihr wäre schwindelig vom Alkohol, und Georg ließe ihr ein Bad einlaufen. Es wäre wie Orient.“

Stolz

„Wer braucht hier auf dem Land einen, der Ideen hat?“, fragt Georg den klugen Lorenz und lädt ihn nach Hannover ein. Dann verschwindet er, und Maria trinkt eine ganze Flasche Schnaps aus. Lorenz will seine Mutter beschützen, seinen Geschwistern über den Winter helfen. Fünf Mal bricht er im Haus seines Mitschülers ein, räumt die Vorratskammer leer, schleppt den schweren Rucksack durch den Schnee den Berg hinauf. „Und dann“, sagt Monika Helfer, „sieht ihn die Mutter an, und er denkt sich: ,Meine Mutter! Jetzt ist sie stolz auf mich.‘ Ich glaube, das ist der schönste Augenblick in seinem Leben.“ Sie selber sei beim Schreiben dieser Szene wirklich stolz gewesen auf Lorenz. „Man denkt sich, er wird’s nicht schaffen. Er wird sterben dabei. Aber er hat’s geschafft.“
Es gibt diese intensiven Glücksmomente in der Familie, auch zwischen Josef und Maria. Dennoch sind sie stets gefährdet, die Armen am Berg. „Dabei waren damals alle arm“, sagt Monika Helfer, „bis auf wenige“. Nur habe die Schönheit Marias die anderen eben neidisch gemacht.
Seine Gaben kämen „vom Herzen“, beteuert der Bürgermeister, und man schaudert davor zurück, in dieses Herz nicht hineinschauen müssen. „Wie viel, dachte Maria, muss ich mir gefallen lassen, damit unser Leben durch seine Gaben erleichtert wird und er den Mund hält.“

Verzweiflung

Maria wird schwanger, aber reicht Josefs kurzer Fronturlaub aus für eine Schwangerschaft? Das Dorf beginnt zu rechnen. Der Pfarrer beginnt zu predigen, versucht, Maria zu einer Beichte zu zwingen, und als sie sich nicht erpressen lässt, wird das Kreuz über ihrer Haustür abmontiert. „Das mit dem Kreuz stimmt“, sagt Monika Helfer. „Dass der das abmontiert hat, das ist so eine Grobheit. Menschenverachtend. Und es ist ihm völlig egal, was mit den Kindern geschieht.“ Doch „Die Bagage“ ist ein Roman, „kein Tatsachenbericht. Die Wahrheit in diesem Roman, würd‘ ich sagen, die dauert zehn Zeilen. Die richtige Wahrheit. Dann spielt die Fantasie immer mit.“
Und dann spielt auch Helfers stupendes Sprachbewusstsein mit. „Die Bagage“ – das ist geformte Wirklichkeit. Wie wunderbar geformt! In beinahe beiläufigen Gesten, deren Tragweite den Familienmitgliedern nicht bewusst ist. Wie auch? Das Leben ist nicht so übersichtlich. Die Reflexion kommt immer nach dem Erleben und: „Was sich im Verborgenen abspielte, war stärker als das Wirkliche.“

Schönheit

Durch das zarte Gewebe dieses Romans leuchtet eine strahlende Menschenfreundlichkeit. Keinem wird Unrecht getan, auch nicht dem verlogenen Bürgermeister. „Diese Geschichte hab ich schon oft angefangen“, sagt Monika Helfer, jetzt hat sie dafür eine wunderbar klare, schlichte, jeden Kitsch eliminierende Sprache gefunden. Und einen trockenen Humor, der den Familienmitgliedern hilft, das, was sie zu tragen haben, auch einmal lässig von den Schultern zu schütteln. Die Religion, zum Beispiel, ist Maria „von Herzen egal“: „… eher an die Heiligen glaubte Maria als an den lieben Gott, der war zu weit weg und hatte selber nichts erlebt, über die Heiligen gab es immerhin Geschichten.“ Selbst der kleine, vierjährige Walter weiß sich gegen die Anmaßungen des Pfarrers zu wehren. Als der das Kreuz über der Haustüre abmontiert hat, läuft er ihm nach: „Du bist ein böser Mensch!“, schrie Walter den Pfarrer an. „Du kommst in die Hölle!“

Witz

Gegen das, was ihr aufgeladen wird, setzt sich die im Dorf so genannte „Bagage“ zur Wehr, indem sie der Wirklichkeit den Spiegel der Sprache vorhält. Warum heißt es eigentlich „im Feld“, fragt Maria, wo der Krieg für Josef doch in den Bergen stattfindet. Und Josef stimmt ein: Man sage außerdem noch „gefallen“, „als ob das Sterben da draußen ein bloßes Hinfallen wäre. Einfach nur hinfallen habe er zumindest niemanden gesehen. Er könnte Sachen erzählen, wie man da draußen stirbt. Keine Rede von einem bloßen Hinfallen.“
Grete, das Kind, das während des Krieges geboren wird, sieht Josef nicht an, spricht er niemals an. Wie kann dieses Kind leben? Wie können Hermann, Lorenz, Katharina, Walter und die nach Grete geborenen Kinder leben? Das Mobbing im Dorf, das Tabu im Heim – es ist ziemlich viel, was „die Bagage“ zu tragen hat. Aber alle haben die Fähigkeit, sich dem Schönen zu öffnen. Und darauf kommt es an. Monika Helfers Roman ist ein leises Plädoyer für die Kraft des Schönen, in der alle Empathie, die es für die „Bagage“ nicht gab, aufleuchtet.

Ingrid Bertel ist Redakteurin im ORF-Landesstudio Vorarlberg

Monika Helfer: Die Bagage, Hanser Verlag 2020, 160 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-446-26562-2, € 19,60