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Kurt Bracharz · 20. Dez 2016 · Literatur

Originell, kulinarisch, üppig: Neue Bücher für die Küche

Die Sachbücher mit zu weit gefassten Themen funktionieren nicht. Küchenlexika beispielsweise sind gut gemeint, aber gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Selbst die fast 1200 Seiten starke, kleingedruckte „Küchenbibel. Enzyklopädie der Kulinaristik“ von Hans-Joachim Rose, Wiesbaden 2007, ist zwar zum Schmökern gut geeignet, versagt aber, wenn man etwas Ausgefallenes nachschlagen will. Das kann auch gar nicht anders sein, der aktuellen Informationsfülle ist höchstens das Internet gewachsen, aber das wird nicht redigiert und ist deshalb unzuverlässig.

Hin und wieder bestätigen Ausnahmen die Regel. Der Titel von Laura Rowes Alles über Essen. Kennen, Kochen und Genießen (Knesebeck) klingt ziemlich präpotent (wie soll „alles“ auf 220 Seiten Platz finden?), aber das Buch ist originell ausgedacht und aufgemacht: Es enthält ausschließlich Infografiken. Erschrecken Sie nicht! Sogar die Tortendiagramme (die sich auch bei diesem Thema nicht direkt auf Torten beziehen) sind das Ansehen wert. Die Autorin, eine englische Gastro-Journalistin, schreibt im Vorwort: „Infografiken mag ich besonders, weil sie Wissenswertes verdichten und veranschaulichen. Sie bieten einen schnellen, einfachen (und oft witzigen) Zugang zu Daten, Fakten und Themen, die man sonst in stundenlanger Kleinarbeit recherchieren müsste – sozusagen Infos als Häppchen, auf dem Silbertablett serviert. (...) In unserem Buch gibt es Fluss-, Kreis- und Mengendiagramme, außerdem Rezepte, Schritt-für-Schritt-Anleitungen und Zeitachsen, Spinnennetzdiagramme und sogar ein Würstchen-Sonnensystem.“ Das Fürwort „unser“ im letzten Satz des Zitats bezieht sich auf die Grafikerin Vicky Turner, die (mit Ausnahme der neun Doppelseiten von Rob Brandt) das Buch gestaltet hat. Nun müsste ich natürlich als Textproben ein paar Infografiken aus „Alles über Essen“ abdrucken, aber das geht hier nicht, deshalb kann ich nur versichern: Hier stimmt die alte Formel „interessant und belehrend zugleich“ wieder einmal. Elke Heidenreich würde sagen: Lesen Sie das!

 

Noch ein Buch, für das dieser Imperativ unbedingt gilt: Magnus Nilsson: Nordic. Das Kochbuch. (Phaidon). Auch wenn Sie keines der darin enthaltenen 700 Rezepte nachkochen wollen, ist es sowohl als kulinarisches Lesebuch als auch als Enzyklopädie der nordischen Küche ein Volltreffer und auf Anhieb als ein Standardwerk erkennbar, das lange Zeit nicht übertroffen werden wird. Es würde mich allerdings wundern, wenn es nicht negative Reaktionen auf die Kapitel über Wale und Robben hervorriefe und sich niemand über den Verzehr von Papageientauchern aufregte. Nilsson ist übrigens ein sogenannter Sternekoch, was bedeutet, dass sein Restaurant Fäviken mit zwei Michelin-Sternen bewertet wird. Wenn man die Bücher anderer Sterneköche kennt, wundert man sich umso mehr über die Unaufgeregtheit, das umfassende Wissen und die „tiefe Recherche“ (Nilsson) von „Nordic“. In einem Interview mit dem ZEITmagazin ONLINE sagte Nilsson: „Ich wollte den Menschen erklären, was genau die nordische Küche ist, welche Kulturen dahinterstehen und ineinander übergehen. Nicht mal die Menschen im Norden wissen das genau. Ich habe sehr viel Zeit investiert und mich nur mit diesem einen Thema beschäftigt, Hunderte Bücher gelesen. Eigentlich dachte ich, ich wüsste sehr viel über ‚Nordic Cooking‘. Doch ich merkte schnell: Eigentlich weiß ich gar nichts. Der Unterschied zu anderen Kochbüchern ist, dass ich hier nicht einfach Rezepte abgegeben habe, die die Leser nachkochen. Normalerweise spreche ich als Koch vor allem über meine eigenen Wünsche und Gedanken. Bei diesem Buch wollte ich mich vollkommen zurücknehmen. Ich habe vor allem die Leute sprechen lassen und mich zurückgehalten, so viel aufgesaugt wie möglich. Deswegen kann ich gar nicht antworten, wenn mich jemand fragt, welche meine schönste Begegnung war.“

 

Ebenfalls ein kulturgeschichtlich weit ausholendes Buch über die Küchen mehrerer Völker, aber viel dünner als „Nordic“, geographisch ganz woanders angesiedelt und nicht von einem Profikoch, sondern von einem Islamwissenschaftler verfasst, ist Peter Heines Köstlicher Orient. Eine Geschichte der Esskultur (Wagenbach). Wer in einem Kochbuch gerne ganzseitige, großformatige Fotos von Speisen, Land und Leuten sieht, findet derzeit jede Menge so gestalteter Bücher über die orientalische Küche in den Buchhandlungen und sollte Heines Buch liegen lassen, denn es richtet sich an jene, denen es um die Geschichte der Esskultur, Warenkunde und authentische Rezepte geht. Neben dem halbseitigen Rezept für Harissa ist hier keine farbige Großaufnahme einer Harissa-Tube abgedruckt. Dafür wird man zum Beispiel die mehrseitige Erklärung, warum Döner-Kebap in Spanien als typisch deutsches Essen gilt, in einem üblichen Kochbuch nicht finden. Zum Nachvollzug der teilweise im historischen Originalton formulierten Rezepte darf man allerdings kein blutiger Anfänger sein, man sollte schon die Grundlagen der Küchentechniken intus haben.

 

Bei Taschen ist Salvador Dalís üppiges Kochbuch Die Diners mit Gala neu aufgelegt worden, als Faksimile der deutschen Ausgabe bei Propyläen (1974), was bedeutet, dass in der Danksagung an die Restaurants, welche die Rezepte geliefert hatten, immer noch ein „Bahnhofsrestaurant von Lyon“ genannt wird, das nicht so recht zu den anderen berühmten Fresstempeln jener Tage – Maxim’s, La Tour d’Argent, Lasserre – zu passen scheint. Das liegt daran, dass Dalí nicht in Lyon, sondern im Restaurant Le Train Bleu im Gare de Lyon speiste. Der Gare de Lyon ist nicht der Bahnhof von Lyon, sondern der meistfrequentierte Bahnhof von Paris, von dem aus die Züge in den Süden abgehen. Das Buch ist immer noch ein optisches Vergnügen (vorausgesetzt, dass man Dalís Bilder mag), aber einige der Rezepte wirkten schon vor vierzig Jahren altbacken, und damit meine ich nicht nur die „Kutteln anno dazumal“ (so heißt das Rezept im Buch). Das Kapitel „Große Köstlichkeiten aus Winzigem“ wird so eingeleitet: „Hier haben Sie die Supergelatine, das Lasche, Superweiche, Zähflüssige, das Gericht, das es verdient, im Gedächtnis behalten zu werden, fähig, Ihren herrschaftlichen Magen scheinheilig wie ein echter Chinese zu täuschen.“ Rezepte gibt es dann für Kalbsleber in Rührei, Schweinswürstchen auf Reis, Kalbsnieren und Sauerkraut nach Art von Vater Hans, also nicht gerade so richtig surrealistisch wirkende Speisen, aber das ist ja auch die häufig genannte Zutat Suppenwürfel nicht. Ein Rezept für falsche Tausendjahreier findet man in dem Buch, obwohl man schon damals zumindest in den Großstädten für wenig Geld bei Chinesen echte Tausendjahreier kaufen konnte, es also eigentlich keinen Grund zur Imitation gab. Ich habe das Dalí-Rezept 1974 nachgekocht, das Ergebnis war enttäuschend, weil es weder optisch noch geschmacklich eine Ähnlichkeit mit Tausendjahreiern hatte – als eine Art Soleier mit Teegeschmack (vier Teebeutel waren die exotischste Zutat) aber durchaus genießbar. Was sagte doch Dalí so unwiderlegbar? „Sie sollten allerdings wissen, daß eine gustative Inbesitznahme die einzige Art ist, sich essbare Phosphoreszenzen einzuverleiben.“

 

Zuletzt ein Buch, das ich nicht wirklich empfehlen kann: grillen, heuschrecken & Co (AT Verlag). Der Untertitel „Kochen mit Insekten. Grundlagen, Rezepte und Hintergrundinformationen“ klingt vielversprechend, aber die meisten Rezepte in dem Buch von Christian Bärtsch und Adrian Kessler ließen sich viel einfacher formulieren, als es tatsächlich der Fall ist, nämlich etwa so: „Ersetzen Sie in der Bolognese das Hackfleisch durch faschierte Mehlwürmer.“ Oder: „Bestreuen Sie eine herkömmliche Panzanella mit knusprig gebratenen Heuschrecken.“ „Dem fertigen Okra-Eintopf werden ein paar Grillen hinzugefügt.“ Dafür brauche nicht nur ich kein Rezept. Allerdings gibt es neben „Einsteigerrezepten“ in dem Buch auch „Gourmetrezepte“, zum Beispiel die „Basler Mehlwurmsuppe“ von Simon Apotheloz vom Restaurant Eisblume in Worb. Diese Suppe wird nicht etwa auf die simple Art herkömmlicher Mehlsuppen zubereitet (Mehl in Fett bräunen, mit Brühe aufgießen, kochen, fertig), sondern es wird neben Zwiebeln und Rotwein Mehlwurmpulver hinzugefügt. Außerdem sollen Perlzwiebeln im Suppenteller liegen, die vakumiert 8 Minuten bei 99° gedämpft und danach mit dem Bunsenbrenner abgeflämmt werden. Für das Bärlauchöl, das auf die Zwiebeln getröpfelt wird (bevor man die Suppe über alles gießt), soll man die Blätter auf 60° erwärmen, 4 Minuten im Thermomix zerkleinern, dann im Eiswasserbad kalt rühren und 24 Stunden ziehen lassen. Das Rezept „Der Flüchtige“ von Fabian Spiquel vom Maison Manesse in Zürich weiß wenigstens den Geschmack der Mehlwürmer selbst zu verbessern, indem diese drei Tage mit Zimt und Orangenschalen bestreute Äpfel fressen und dann zwei Tage hungern, damit sich ihr Verdauungstrakt entleert. Das Buch behandelt übrigens nur vier Insekten: die Europäische Wanderheuschrecke, die Hausgrille, den Mehlwurm, der die Larve des Mehlkäfers ist,  und den Buffalowurm, die Larve des Getreideschimmelkäfers (zu der im Buch angemerkt wird, dass sie wie der Mehlwurm verwendet werden kann, aber „in der Schweiz nicht für die Legalisierung vorgesehen“ sei). Nicht ganz zufällig wird nur bei der Heuschrecke ihr „hühnchenartiger Geschmack“ erwähnt. Beim Mehlwurm schweigt diesbezüglich des Sängers Höflichkeit.