Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Annette Raschner · 15. Jul 2022 · Literatur

Nach dem Schelm ein verzweifelter Rebell

Die 1853 veröffentlichte Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ des amerikanischen Schriftstellers Herman Melville ist der Festivalklassiker des zweiten Literaricum Lech. Auf Initiative und Einladung von Nicola Steiner, Michael Köhlmeier und Raoul Schrott lesen und diskutieren namhafte Persönlichkeiten aus Literatur und Kultur über Aspekte dieses Buches. Für die Eröffnungsrede konnte Deutschlands wohl bekannteste Literaturkritikerin Elke Heidenreich gewonnen werden. Annette Raschner hat mit ihr gesprochen.

Annette Raschner: Die Weltliteratur hat viele verschiedene Heldinnen und Helden hervorgebracht. Bartleby ist ein sanfter, still insistierender, blasser Held, der vor allem durch einen Satz berühmt geworden ist: „Ich möchte lieber nicht.“ Was ist das Einnehmende dieses Helden? Weshalb rührt er uns dermaßen an?
Elke Heidenreich: Der Bartleby traut sich etwas, was wir uns alle nicht trauen: Er sagt Nein zu Unzumutbarkeiten. Anfangs arbeitet er sehr fleißig in der Kanzlei, aber nach drei Tagen sagt er: „Ich möchte lieber nicht“, weil er diese Arbeit sinnlos findet. Und wenn man das so konsequent macht wie Bartleby, dann macht man es bis zum Tode. Das möchte ich von niemandem verlangen, aber es wäre vielleicht für uns alle gut, ab und zu in dieser gerade toxischen Selbstverwirklichungswelt zu sagen: „Nein, ich möchte das nicht.“ Er rührt uns so an, weil er die Verweigerungshaltung durchhält, wie Kafkas Hungerkünstler. Bartleby ist ein verzweifelter Mensch und die Verzweiflung treibt ihn bis in den physischen Tod, den psychischen hatte er schon vorher.
Raschner: Ihr eigenes Arbeitsleben war und ist ein ungemein vielfältiges. Wie oft haben Sie dennoch den Wunsch eines passiven Widerstands, einer „Bartlebyschen“ Verweigerungshaltung, verspürt?
Heidenreich: Ich kann mittlerweile ganz gut Nein sagen. Ich habe es gelernt, mich zu schützen und bei gewissen Dingen zu sagen, dass ich das nicht möchte. Obwohl es mir immer noch schwerfällt und manchmal ärgere ich mich, dass ich wieder etwas zugesagt habe. Also, man kann von Bartleby lernen, darüber nachzudenken, was einem schadet und was man lieber bleiben lassen sollte.
Raschner: Gemeinsam mit der Politologin Juliane Marie Schreiber diskutieren Sie über den Terror des positiven Denkens – auch eine Form des grassierenden Selbstoptimierungswahns.
Heidenreich: Ja, ihr Buch „Ich möchte lieber nicht“ hat mich begeistert. Sie erklärt darin wissenschaftlich fundiert aber leicht verständlich, dass es ein Wahnsinn ist, dass uns das Shampoo bereits morgens glücklich machen soll. Und unser Tee ist ein Wohlfühltee, und alles um uns herum soll nur dazu da sein, uns glücklich zu machen. Nietzsche hat schon gesagt, dass der Mensch nicht dazu da ist, glücklich zu sein. Glück und Unglück gehören doch zusammen! Wir brauchen gerade die Unglücklichen, die Sensiblen, die Durchlässigen und Unzufriedenen, denn die treiben die Welt voran und haben die Kraft, Dinge zu verändern. Glückliche sind nur mit sich beschäftigt. Wenn wir immer nur danach streben, glücklicher und schöner zu werden und unser Gesicht dafür verunstalten, wie Frauen das oft tun, dann ist das ein völliger Unsinn. Und da hat Bartleby mit seinem Satz recht: Ich möchte lieber nicht.
Raschner: Letztes Jahr stand der Schelmenroman „Simplicius Simplicissimus“ im Fokus. Jedes Jahr soll ein Klassiker der Weltliteratur zum Wiederentdecken oder Neuentdecken ausgewählt und anhand dessen interessante Aspekte abgeleitet werden. Gefällt Ihnen diese Grundidee?
Heidenreich: Ich finde das großartig. Das ist etwas Spezielles für richtige Literaturliebhaber. Damit kann man zwar vielleicht nicht neue Leser rekrutieren, wie ich das immer möchte, aber es ist sehr wichtig, sich mit einem Topos der Literatur so zu beschäftigen, dass man sieht, wo er überall Spuren hinterlassen hat. Es ist ein Kreis, der sich zu einem Thema schließt. Ein Symposium im guten altmodischen Sinne.

Literaricum Lech. Das Literaturfest für Bildung und Unterhaltung auf hohem Niveau.
14. - 16.7.
versch. Veranstaltungsorte, Lech / Oberlech

www.lechzuers.com