Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Florian Gucher · 21. Okt 2022 · Literatur

Johann Marte: „Nowo-Djewitschi, 1979“

Von kleinen Anekdoten als Bezirksrichter in Bregenz über die Reise nach Polen und in die Sowjetunion bis hin zu waghalsigen wie zeitgleich geschickt eingefädelten Rettungsaktionen: Selten liest man derart ergreifende Memoiren, authentisch wiedergegeben und zeitgleich so hochkomplex, wie das Leben des Staatsbeamten Johann Marte nun mal war. „Nowo-Djewitschi, 1979“ ist wie eine große Wundertüte, geht von einem ins andere und belebt sich geradezu durch seine Abschweifungen.

Doch man wird es kaum glauben: Die Besonderheit dieses autobiografischen Werkes liegt eigentlich in der Zurücknahme des eigenen Selbst. Wodurch es dann nur noch stärker erstrahlt. Marte spricht lieber von den Begegnungen, als sich zu repräsentieren, geschweige denn auf einen Sockel zu heben: „Ich habe mich lange gewehrt, ein Buch über mein eigenes Leben zu schreiben. Warum? Um es mit einem Zitat von Papst Johannes XXIII zu sagen: ‚Nimm dich doch nicht so wichtig, Giovanni‘“, bemerkt der Autor mit einem Lächeln.

Hinaus in die Welt

Auf rund 600 Seiten erzählt er uns über Gott und die Welt: Wer den Roman „Nowo-Djewitschi, 1979“ lesen möchte, muss sich auf etwas einlassen können, wird dann jedoch durchwegs mit Zuckerl um Zuckerl belohnt. Gewissermaßen ist der Roman die Lebensgeschichte Johann Martes, der dabei überraschenderweise relativ selten im Mittelpunkt steht. Sind es doch gerade die Erzählungen rund um die Hauptperson, die dem autobiografischen Roman an Gewicht verleihen. Ganz gleich ob die Begegnungen mit Systemkritikern wie Tolja Slepyschev mit seinen zynischen Bemerkungen über das politische System oder die Polenreise Ingeborg Bachmanns, die Marte auf jeweils individuelle Weise geprägt haben. Aber auch die Beschreibung herausragender Musikschaffender wie Wladimir Wyssozki, die in staatliche Ungnade gefallen sind, mit all den kurzen Randbemerkungen bis hin zu Künstlerpersönlichkeiten wie Viktor Platonow, Wassili Sitnikow und Vadim Kosmatschof. All das zeigt nur zu eindrücklich, wie das Leben des Verfassers so gespielt hat, ohne sich selbst in die Position der zentralen Figur zu hieven. Der Roman hat stets neue Überraschungen parat. Immer jedoch tangieren die einzelnen Beschreibungen, wenn auch mal mehr, mal weniger und manchmal nur am äußersten Rande, Johann Marte selbst als Diplomat, der nur allzu vielen aus der Patsche geholfen hat. In einem achtjährigen Aufenthalt in Moskau war er bestrebt, das Land zu lesen wie auch seine eigenen Erfahrungen vor Ort machen zu können: „Dass mein Vater, der ausgiebige Kenntnis mit den beiden ,kollektiven Geisteskrankheiten‘ des Nationalsozialismus und des russischen Kommunismus gemacht hat, in einem sibirischen Lager ums Leben kam und in einem Massengrab in sowjetischer Erde begraben wurde, gab mir gewissermaßen den Anstoß, aus meiner Heimat Vorarlberg wegzugehen. Für viele verwunderlich, da ich einen gesicherten Job als Richter gegen eine Verwaltungsstelle in Wien eingetauscht habe. Doch ich wollte die Realität kennenlernen“, betont Marte.

Schritt für Schritt zum Gesamtbild

Von Wien über Polen verschlägt es ihn dann in die damalige Sowjetunion, um später auch noch nach China aufzubrechen, sich zum Generaldirektor der Österreichischen Nationalbibliothek emporzuarbeiten und selbst im (Un-)Ruhestand noch für mächtig Furore zu sorgen. Und letzten Endes mit gewisser Distanz wiederum auf das eigene Heimatland schauen zu können – dies das Leben von Marte im Kurzen. Doch die Kunst des Autors ist es, trotz der vielen Exkurse den runden Bogen nicht aus den Augen zu verlieren. Gekonnt schlägt Marte die Kluft zwischen hochgradig politischen Abhandlungen, die für das Verständnis der politischen Landschaft Russlands unumgänglich scheinen, und tief persönlichen Erlebnissen, die uns auf abwechslungsreiche wie einfühlsame Weise ergreifen. Hinzu kommen Episoden aus den Untiefen des Alltags. Heraus sticht das eindrucksvolle Porträt vom Tod seiner Mutter als ein Tagebucheintrag von anno dazumal, der Johann Marte auch als großen Poeten zeigt. Über mehrere Seiten eindrucksvoll ausformuliert, teilt er seine Gefühle tagebuchartig dem Lesepublikum mit, und das in einer Sprache, die nah ans Herz geht und zeitgleich so glaubhaft ist, als sei dies gestern passiert.
Bei den ganzen außerhalb befindlichen Erzählungen gewinnt dann dennoch der Protagonist selbst letztendlich erstaunlicherweise klar umrissene Konturen. Was beweist: Man muss nicht immer von sich selbst ausgehen, um über sich und sein Leben zu erzählen. Gibt die Umgebung dann und wann nicht mehr von dir preis als selbstbezogene Ich-Erzählungen? Immer wieder als Glanzlicht auftauchend, aber sich schön in den Gesamtkomplex einbettend: Der Erzähler als großer Widerständler, der Hand, Auge und Ohr für Menschen in Not hatte. Und sich dabei waghalsig über Richtlinien und Anordnungen des Staates hinwegsetzte. Schon als Richter in Vorarlberg, dann aber noch vielmehr in Moskau, wo es galt, geschickt vorzugehen, um unters Radar zu fallen. Wie er dann fein ausformuliert zeigt, wie man das KGB (Komitee für Staatssicherheit, sowjetischer In- und Auslandsgeheimdienst) austrickst und Unmögliches möglich macht, auch in einem Land, in dem die Zügel so eng scheinen: „Widerstand zu leisten war immer eine Grundlinie von mir. Es ist fast wie ein Faden, der sich über die Zeit zieht. Auch wenn mir meine Position als Kulturrat an der Österreichischen Botschaft in Moskau von 1974-1982 mehr ermöglichte, habe ich mich so einiges getraut. Wobei mir der Glaube und das Christentum Halt gaben und sich als wichtig, auch im Hinblick auf meine Entscheidungen, erwiesen“, betont Johann Marte.
Bereichert mit zahlreichen schwarz-weiß Originalfotos, die eingebettet zwischen den Texten einen visuell noch stärkeren Eindruck von den Lebensetappen des Autors geben, zeichnet Johann Marte seine Begegnungen mit unterschiedlichen Medien nach. Dazu gesellt sich übrigens auch noch ein ganzes Repertoire an filmischen Impressionen, die auf YouTube gestellt dem Roman ein noch stärkeres Antlitz verleihen, und letztlich demonstrieren sollen, welch großartiger Kameramann, Filmemacher und welches Allroundtalent Johann Marte ist.

Johann Marte: Nowo-Djewitschi, 1979. Autobiographischer Roman in Europa zwischen Ost und West. Wieser Verlag, Klagenfurt 2022, gebunden, ISBN: 978 3 99029 541 0, Euro 29