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Ingrid Bertel · 27. Dez 2016 · Literatur

Die dünne Schicht der Zivilisation: In zwei Büchern erinnert der Verleger und Autor Bernd Schuchter an den lothringischen Kupferstecher Jacques Callot

1138 Menschen, 137 Hunde, 67 Esel und 45 Pferde – alle auf einem Blatt kleiner als eine A 5 Seite – solche Wunderwerke konnte nur einer schaffen: der lothringische Zeichner Jacques Callot. Aber haben wir heute noch die Kultur des Bilderlesens, die uns begreifen lässt, was er sah? Die Museen waren nie so voll wie jetzt. Doch die Menschen, die Schlange stehen für die Gemälde von Frans Hals oder Diego Velázquez, betrachten die Bilder oft nicht einmal drei Sekunden lang. Sie lächeln, bewaffnet mit Selfiesticks, in ihr Smartphone, um aller Welt zu beweisen: davor bin ich auch gestanden. Gefragt sind unter diesen Umständen Bilder, die sich schnell entziffern lassen – klare Konturen, starke Farben, bekannte Themen. Ein Mann wie Jacques Callot hat keine Chance auf jenen Ruhm, den er zu Lebzeiten genoss.

Den „wirkungsmächtigsten Kritiker“ des Dreißigjährigen Krieges nennt ihn Bernd Schuchter. Dabei ist die Auseinandersetzung der Kunsthistoriker mit dem Werk Callots durchaus überschaubar. Kaum etwas erinnert in seiner Heimatstadt Nancy an ihn. Schuchter findet bei seinem Besuch dort nur wenige Spuren im lokalen Musée Lorraine, ein paar Postkarten, das Wohnhaus, das Grab. Schließlich geht er in die riesige „Hall de Livres“ und spricht mit einer Buchhändlerin: „Früher habe es einige Bücher über Jacques Callot gegeben, sagt sie, aber derzeit … leider gar nichts.“ Was interessiert Bernd Schuchter so sehr an diesem Künstler, dass er ihm gleich zwei Bücher widmet? Callot zeige, wie dünn die Schicht an Zivilisation ist, schreibt er in seinem Essay.

Die Übergabe von Breda

Im Jahr 1625 wurde die Festungsstadt Breda an der belgisch-niederländischen Grenze wieder einmal erobert, diesmal von spanischen Truppen. Diego Velázquez, Hofmaler des spanischen Königs, hielt den Sieg in seinem Monumentalgemälde „Die Übergabe von Breda“ fest. Wegen einer die Komposition beherrschenden Reihe von Soldaten wird das Werk weniger pathetisch „Die Lanzen“ genannt. Die Waffen sind ein Hinweis auf die in ganz Europa gefürchtete spanische Kriegstechnik der „Tercios“. Auch auf Jacques Callots Bild der „Belagerung von Breda“ ist diese Gefechtsaufstellung des Fußvolks abgebildet.
Die Reise des ewig frierenden Jacques Callot nach Breda ist der erzählerische Rahmen für Bernd Schuchter. Als der Künstler das Lager der Spanier erreicht, schockiert ihn der desolate Zustand dieser aus ganz Europa und Nordafrika zusammengewürfelten Söldnertruppe: „Das also waren die Sieger von Breda, zerlumpte Bettler, bei denen es ungewiss war, ob sie die nächsten Tage überleben würden.“
Diego Velázquez stellt auf seinem Gemälde jenen Moment dar, da der Bürgermeister die Schlüssel der Stadt übergibt und dafür die Zusicherung bekommt, Breda werde nicht geplündert. Er zeigt auch, wie unzufrieden die Soldaten deshalb sind. Was zeigt Jacques Callot? Es sind zwischen 10.000 und 20.000 Personen, die er auf die sechs Blätter zeichnet. „…während die Auftragsarbeit eigentlich die Größe und Pracht der spanischen Krone abbilden soll … schafft Callot hier eine ganze Welt im Kleinen…“ Unten rechts sitzt der siegreiche Feldherr Ambrosio Spinola auf seinem Pferd und betrachtet den Einzug der Infantin, „während auf dem Feld dahinter noch mehrere Brigaden in Gefechtsaufstellung der Tercios den Feind fixieren. Auch der Schlachtverlauf wurde so dokumentiert.“ 

Eine persönliche Krise

Schuchter sieht die Breda-Mappe als Vorübung zu den „Großen Schrecken des Krieges“ (1633). Hat eine persönliche Krise des Künstlers, hat ein Nachhall der grauenvollen Szenen von Breda dieses Werk ausgelöst? Anders als seine Zeitgenossen rückt Callot das Elend des einfachen Bauern, Soldaten, Bürgers in den Mittelpunkt. Schuchter spricht von der „Erfindung des Individuums“, weil Callot all diesen Figuren eine persönliche Körpersprache, einen eigenen Muskeltonus, eine besondere Mimik gibt.
Individuen ganz anderer Art malte Callots Zeitgenosse Frans Hals. An seinen Portraits reicher Haarlemer Bürger ist zu sehen, wie Geld wirkt. Den Krieg nützen sie, um zu spekulieren – mit Getreide, Edelmetallen, Devisen, Sklaven, Handelsgütern aller Art. Und zwar in einem Maßstab, der dem übrigen Europa den Atem raubt und es in Abhängigkeit vom holländischen Kapital bringt. Die holländischen Staaten erklären offiziell, dass die Kirche in Sachen Wucher, im Bankgewerbe überhaupt nicht zuständig sei. Holländische Waffenhändler verkaufen bedenkenlos an jede kriegführende Partei, auch an die eigenen Feinde. Der Machtrausch und die spezielle Toleranz, die Geld erzeugt, ist den Unternehmern, die Frans Hals malt, anzusehen.

Callot aber beobachtet, was nach dem Zerfall der herkömmlichen Moral geschieht. Auf Blättern wie „Plünderung des Bauernhofs“ oder „Zerstörung und Verbrennung eines Dorfes“ zeigt er Kriegsverbrechen am helllichten Tag, unter hochstehender Sonne. Vor allem aber geht es ihm um die Bestrafung. Fünf der 18 Blätter widmet er diesem Thema, und Schuchter fragt: „Wer wollte diese Betonung auf Ordnung, der Sitte aus Angst vor Bestrafung? Callot? Oder die lothringische Obrigkeit, seine Bekannten, Brüder und Förderer im franziskanischen Orden von Nancy? Oder etwa der französische König, der mit den Augen seines Kanzlers, Kardinal Richelieu, auf Lothringen schielte?“

Die erbarmungslose Kälte der Zeit

Ein genauerer Blick auf die Blätter enthüllt die unsagbare Brutalität der Strafen. Auf den „Wippgalgen“ wurde ein Mann mit auf dem Rücken verschränkten Armen gehängt. Er wird die Qual erleiden, dass die Arme aufgrund der Schwerkraft vom Körper getrennt werden. Als ein Blatt von dröhnender Stille erweist sich „Die Gehenkten“. Zwanzig Leichen hängen an einem Baum, dessen Krone Callot nicht zeichnet; er schneidet sie brutal ab. Ein Priester begleitet den einundzwanzigsten verurteilten Dieb. Unbeeindruckt würfeln ein paar Soldaten auf einer Trommel. Nur ein Paar im Vordergrund senkt die Köpfe; der Mann hält ein kleines Kreuz in seinen Händen. Aber hat nicht auch er angesichts dieses Erlebens den Glauben verloren? „Man muss sich das vorstellen: hier werden keine dahergelaufenen Strauchdiebe aufgeknüpft, sondern die eigenen Soldaten von ihren Heerführern hingerichtet; von jenen also, denen sie ihr Elend vermutlich zu verdanken haben, das sie vielleicht zum Diebstahl eines Huhnes oder eines Laibes Brot gezwungen hat; um die Konsequenzen wissend, denn Marodieren und Plündern war nicht generell erlaubt.“

Rationalismus

Jacques Callot hat am geistigen Leben seiner Zeit regen Anteil genommen. Während seiner Jahre in Italien lernte er Galileo Galilei kennen und benutzte möglicherweise auch dessen Erfindung, das Mikroskop. Er war ein Zeitgenosse von René Descartes. Ist er ihm begegnet? Frans Hals hat Descartes gemalt. Entgeistert blickt der Philosoph auf uns. Erwägt er die Absurdität dessen, was rund um ihn geschieht? Descartes gilt als Begründer des Rationalismus, also der zweifelnden Frage, ob es Erkenntnis überhaupt gibt. Wenn ja, dann wäre Erkenntnis ein Produkt der Vernunft, und die Religion, die Offenbarung müsste sich dieser Vernunft beugen. Das bedeutet das Ende des Glaubens.
Etwas von der provozierenden Schärfe des Rationalismus findet sich, trotz der frömmlerischen Texte, in den Bildern Jacques Callots. Rembrandt ist so beeindruckt, dass er sie sammelt. Anthonis van Dyck portraitiert den Kollegen. Goya wird von diesen Bildern zu seiner Serie der „Desastres de la Guerra“ angeregt und E. T. A. Hoffmann zu den „Fantasiestücken in Callots Manier“. Das sind beeindruckende Gewährsleute, die auch das handwerkliche Können Callots richtig einschätzen.

Technische Neuerungen

Callot hat eine eigene Radiertechnik entwickelt. Er benützte statt des bis dahin üblichen weichen einen harten Firnis, wie ihn etwa die Lautenmacher bevorzugten. „Besonders charakteristisch für Callot wurde die Verwendung der sogenannten échoppe, eines Gravurinstruments mit abgeschrägter Spitze, mit der Callot der Radierlinie eine besondere Lebendigkeit und Raumhaltigkeit zu geben vermochte. Durch eine leichte Drehung der Spitze konnte man in der Verwendung der échoppe die Linie in einem Zug anschwellen lassen und dann wieder schmal und fein machen.“
Es ist eine seiner technischen Neuerungen, die Jacques Callot vermutlich das Leben kostete: Er experimentierte auch mit der Anwendung des Ätzwassers und verschiedener Ätzvorgänge, womit er eine farbliche Grauabstufung erreichte – und seine Lungen zerstörte. Er wurde 43 Jahre alt. Er hat uns bis heute viel zu sagen, und Bernd Schuchter ist zu danken, dass er diesen Meister dem Vergessen entreißt.

 

Bernd Schuchter, Jacques Callot und die Erfindung des Individuums, 160 Seiten, 18 €, ISBN 9783992001682, Braumüller Verlag Jacques Callot, Die großen Schrecken des Krieges, 48 Seiten € 20, ISBN 9783990390948, Limbus Verlag, 2016