Der Vorhang fällt. Ein dunkelgrüner Vorhang – „Die Erbschaft“ von Zsuzsanna Gahse
Der Umschlag ist von einem tiefen Smaragdgrün, darüber fliegt die klare Handschrift von Zsuzsanna Gahse. „Die Erbschaft“ nennt die am Schweizer Bodensee lebende Herzensösterreicherin und intellektuelle Europäerin ihr neues Buch – und wagt sich damit auf vermintes Gelände: „Die Erbschaft“ besteht aus Witzen.
Da steht er, das Champagnerglas in der Hand, und wünscht sich ein Fest, bei dem alle heiße Köpfe kriegen vom Wein und Unsinn treiben nach seinem Begehr. Einen Jux will er sich machen, Don Giovanni, dieser Mozart’sche Mann. Der Regisseur stellt den Don an die Rampe, vor eine spiegelnde Alufolie, in der sich das Publikum selbst beobachten kann – ein böser Witz, eine Verdoppelung der Geisterbahn, in die Mozart seine Gesellschaft verfrachtet. In Zsuzsanna Gahses Erzählung wird die Szene zum Auslöser für eine ganze Reihe von Scherzen, die hin und her fliegen zwischen ihrer Erzählerin, einem gewissen Hans oder Giovanni und einem leise irritierten Basler Journalisten. „Und Giovanni erklärt dem Fremden unser Coming out, Comin‘ out. Dass wir nämlich in der Früh einander täglich Witze erzählen. Wenn wir zu Hause sind, kochen wir abwechselnd den ersten Kaffee, bringen ihn ans Bett und erzählen einander Witze, erläutert er.“
Überspringen der Zeiten und der Kulturen
Zuszsanna Gahse inszeniert ihre Witze in einer Reihe komischer Alltagsszenen. Denn „ein Witz ist ebenso Erzählung wie ein Roman“. Und er springt über Zeiten und Kulturen. Dem verblüfften Basler Journalisten erzählt Giovanni einen ersten Witz, den er bei Cervantes gefunden zu haben scheint: „Ein Bauer geht mit seinem Esel und seinem Hund in der sengenden Hitze durch eine öde Landschaft in Spanien. Plötzlich bleibt der Esel stehen, der Bauer versetzt ihm einen Peitschenhieb, dann einen zweiten Peitschenhieb, aber anstatt weiterzugehen, wendet ihm der Esel den Kopf zu und sagt laut, dass er müde sei und völlig erschöpft. Da lässt der Bauer die Peitsche augenblicklich fallen und rennt so schnell er kann davon, der Hund ihm hinterher, und erst, als der Mann keine Puste mehr hat, setzt er sich auf die bloße Erde. Na, sagt der Hund neben ihm, der Esel, der hat dir vorhin einen ganz schönen Schrecken eingejagt, eh?“
„Ey!“, würde der Hund wohl heute sagen. Was das Überspringen eines Witzes von einer Epoche und Kultur in eine andere möglich macht, ist die spezielle Erzählhaltung, die Fähigkeit, einen Sachverhalt überraschend zu wenden. Aber hat das vor Zsuzsanna Gahse jemals eine Erzählerin mit so anmutiger Geste übermittelt? Das Übersetzen in jeder Bedeutung des Worts, ist eine ganz besondere Qualität Gahses, eine, die sie in so vielen Richtungen schon ausgelotet hat – dieser freie, europäische Geist! Dieser Joker!
Vermintes Gelände
Das englische „joke“ (Scherz) hänge sprachgeschichtlich ja zusammen mit dem italienischen „giocare“, meint sie, während das englische „wit“ eben nicht Witz, sondern Geist bedeute. Sie aber wolle beides pflegen. Geistreiches Spiel ist „Die Erbschaft“ - und außerdem ist das Wort „pflegen“ richtig gewählt. Zsuzsanna Gahse betritt nämlich vermintes Gelände. Schon weil es über Jahrhunderte gesellschaftlich tabu war, dass eine Frau Witze reißt und weil sich noch heute eine lustige Frau meist dem vulgären Zugriff preisgibt. Aber Gahse ist kein „Ladykracher“, auch nicht, wenn sie sich dem erotischen Witz nähert, der traditionell frauenfeindlichsten Form des Erzählens. Auch, leider, weil es immer genügend Frauen gab, die noch bei der bösesten Häme hilflos mitlachten. Zsuzsanna Gahse tanzt einen eleganten Schritt weg aus der Welt dieser Mütter: „Annchen ist fünfzehn und will zum ersten Mal im Leben zu einem Straßenfest, zu einem Maienball. Da sagt ihr die Mutter: Annchen, du weißt, du bist hübsch, also musst du erst recht aufpassen. Bestimmt wird ein junger Mann auf dich zukommen, der macht dir schöne Augen, tanzt mit dir, hinterher lädt er dich zum Tee ein, zu sich nach Hause, und am Ende legt er sich auf dich. Dann aber, das musst du wissen, dann weint die Mama!
Am nächsten Morgen sagt Annchen glücklich: Mama, du bist wunderbar, alles hast du im Voraus gewusst. Gleich zu Beginn kam ein junger Mann auf mich zu, der sah großartig aus, und wie er mich anschaute, und wie er tanzte! Nachher hat er mich zum Tee eingeladen, zu sich nach Hause, aber weißt du, dann habe ich mich auf ihn gelegt! Soll doch seine Mutter weinen!“
Vermutlich wirkte dieser Witz in der Zeit, als er entstand – ich nehme einmal an so um 1950 – sehr viel provozierender als heute. Witze spiegeln auch die gesellschaftliche Haltung einer Zeit – und sie bilden den Kitt einer Familie, einer Gemeinschaft. Gahse lässt ihre Mutter einen unübersetzbaren Witz erzählen – und naturgemäß scheitern. „Lass doch“, meint der Vater, „was nicht geht, geht halt nicht.“ Dabei versucht er selber unentwegt, etwas zu erzählen, was niemand versteht. Einen ziemlich alten Witz:
„Beispielsweise erzählt Sokrates einem schönen Knaben: Eines Tages ist die gesamte Erde verwüstet, überall liegt Staub, nichts als Staub.
Ja, antwortet der (ungefragte) Knabe. Überall liegt nichts als Staub.
Nun aber, so Sokrates weiter, regt sich der wüstenhaft sandige Boden, es entsteht ein Loch, die Erde bricht auf, sackt ein, und aus der frischen Grube steigt ein Mann ans Licht. Wer ist dieser Mann?
Wer ist dieser Mann, sagt der Jüngling.
Es ist Lenin. Denn, schöner Jüngling, Lenin lebte, Lenin lebt und Lenin wird leben.“
Das versteht niemand, bemerkt die Schwester, und ein grüner Vorhang fällt über diese Familienszene aus der Commedia dell’Arte. „Die Erbschaft“ nennt Zsuzsanna Gahse ihr Buch, und ist es nötig zu erwähnen, dass Teile dieser Erbschaft sich dem Gulaschkommunismus verdanken?
Kommunist - Faschist - Opportunist
„Als der liebe Gott die Welt erschaffen hatte, meinte er, dass es für die Menschen drei Haupteigenschaften geben sollte. Ehrlich sein, klug sein und Kommunist sein. Dann dachte er, dass ein einzelner Mensch höchstens zwei dieser wichtigen Eigenschaften verdiene. Daher ist derjenige, der klug und ein Kommunist ist, nicht ehrlich, der ehrliche Kommunist ist nicht klug, und wer klug und ehrlich ist, ist kein Kommunist.“
István Szabó habe für seinen Film „Mephisto“ den Witz so verwendet, dass er den Kommunisten gegen einen Faschisten austauschte, bemerkt Gahse. Aber eigentlich könnte man statt Kommunist oder Faschist auch sagen: Opportunist. Nur ist es dann kein Witz mehr, sondern betrübliche Wahrheit.
Zsuzsanna Gahse lächelt. Der Witz bewege sich nicht nur in den Tabuzonen der Gesellschaft, er handle auch meist von Traurigkeiten. Und sie erzählt einen letzten Witz:
„Kurz vor Mitternacht läutet der Arzt. Die Ehefrau bittet ihn weinend herein. Ihr Mann ist kurz zuvor gestorben.
Mein Beileid, sagt der Arzt und fragt dann, ob der Ehemann alle Tabletten genommen habe.
Ja, sagt sie in ihr Taschentuch hinein.
Und hat er auch die kleinen grünen Tabletten genommen?
Ja, sicher hat er sie genommen.
Und hat er dann geschwitzt, fragt er.
Ja; er hat viel geschwitzt, sagt sie.
Ah, das ist gut, das ist gut, sagt der Arzt.“
Zsuzsanna Gahse, „Die Erbschaft“, Zeichnungen von Anna Luchs, 14 Euro, 64 Seiten, broschiert, fadengeheftet, ISBN 978-3-902113-00-3, Edition Korrespondenzen, Wien 2013