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Ingrid Bertel · 13. Mai 2014 · Literatur

Der investigative Arztroman - Der Arzt Werner Vogt legt seinen Lebensbericht vor – die Chronik eines Widerspenstigen

Er gehört zu den Pionieren der Zivilgesellschaft in Österreich. Er griff ebenso oft zur Feder wie zum Skalpell, denn als „erbitterter Gegner der Zweiklassenmedizin“ sah sich der Chirurg Werner Vogt gezwungen, Klartext zu reden. Investigativer Journalismus nennt sich das, wenn gut Verborgenes aufgedeckt wird. Das gilt auch für Vogts Lebensbericht – in dem er von prägenden Erlebnissen in Vorarlberg erzählt. „Mein Arztroman“ nennt sich das garantiert kitschfreie Buch.

Eigentlich arbeitet nur noch der Bergdoktor nach den bewährten Schablonen des Arztromans. Dr. Norden und Stefan Frank, die Heftchenhelden, haben längst ausgedient, sind ersetzt worden durch Dr. House, Grey’s Anatomy und die Zyniker von Nip Tuck. Was Werner Vogt unter dem Titel „Mein Arztroman“ vorlegt, blickt denn auch bisweilen wehmütig zurück. Im großen Ganzen aber argumentiert der Chirurg und Autor wortgewaltig und mit feiner Ironie gegen das Schwächeln des Sozialstaats und für eine Medizin, die im Menschen mehr sieht als Operationsgut. Warum er Journalismus und Chirurgie ein Leben lang nebeneinander betrieb, erklärt Vogt am besten selbst: „Der Konflikt ist meine Form der Nächstenliebe.“

Anamnese


Dabei sind dem Tiroler die beiden Berufe keineswegs in die Wiege gelegt worden. Seine ersten Schritte als selbstverantwortlicher Mensch machte der 14-Jährige an der Lehrerbildungsanstalt in Feldkirch. Die bot Matura und Berufsberechtigung in einem. Qualifiziert für den Unterricht hat sich der Chorknabe und Geigenschüler durch seine Musikalität: „Ein Lehrer muss die Messe mit Orgelspiel und mit dem Kirchenchor gestalten, und er muss die Dorf- oder Stadtkapelle dirigieren können.“ Der Bub lernt also Klavier und Orgel, Bratsche und Kontrabass. Er gründet einen Klassenchor, mit dem er das Jugendsingen gewinnt, kauft sich eine Ziehharmonika und wird Mitglied einer Tanzkapelle. „Viel hätte nicht gefehlt, und ich wäre als Musikant durch’s Leben gelaufen.“

Der Teenager Werner Vogt war wohl ein ziemlich frömmlerischer Junge, doch seine Autoritätsgläubigkeit wird früh erschüttert. „Meine erste Erfahrung mit Gewalt gegen Schutzbedürftige hatte ich 1955 in der Jugenderziehungsanstalt Jagdberg, Vorarlberg, gemacht, wo ich einen Sommer als Hilfserzieher Dienst machte.“
Er sperrt die Augen auf und stolpert als angehender Volksschullehrer in Bregenz in seinen ersten „Konflikt“. Dem Schulinspektor missfällt der von Vogt praktizierte angstfreie Kollektiv-Ansatz, er schimpft über „diese Judenschule“. Vogt recherchiert die Nazivergangenheit von Inspektor Helbock und setzt sich zu Wehr. Aber es zieht ihn zum Medizinstudium nach Wien. Das sei etwas für reicher Leute Söhne, hat ihm seine Verwandtschaft („lauter Schlosser“) beigebracht. Ein Kumpel klärt ihn auf: Geld koste nur das Sezierbesteck: „Nun war auch mir alles klar: Schluss mit der elenden Psychologie, auf in das handfeste Leben eines Arztes.“

Diagnose


Ein klarer Blick auf den Ist-Zustand, eine schnelle Entscheidung, an deren Richtigkeit nicht gerüttelt wird, und dann: die Tat. So sind die Qualitäten eines Chirurgen. Und weil die Schlosser-Ahnung mit den reichen Eltern doch etwas für sich hat und die Arztsöhne beruflich an Vogt vorbeiziehen, entscheidet er sich für die noch junge Unfallchirurgie und begibt sich zum Famulieren nach Vorarlberg. Die Zustände an der „Valduna“ schockieren ihn: „Die schweren Fälle waren in Kammern oder Gitterbetten Tag und Nacht eingesperrt, sich selbst überlassen. Mir wurden die von einer Bauernmagd in einem Schweinekobel geborenen und heimlich mit Schweinen großgezogenen Zwillinge vorgeführt, die sich auf allen Vieren grunzend fortbewegten. Im Schweinestall geboren aus Angst vor katholischer Nachrede im Dorf.“

Vogt muckt auf gegen die Kirche, und autoritär verordnen lässt er sich auch nichts mehr. Er beteiligt sich an einer Systemanalyse des Gesundheitswesens in Österreich und kann belegen: „Das Verhalten von Menschen gegenüber körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen ist abhängig von ihrer Schichtzugehörigkeit, von Bildung, Einkommen, Region, in der sie leben müssen.“ Daran soll die von Vogt mitbegründete „Kritische Medizin“ etwas ändern. Und eine Artikelserie in der Kronenzeitung unter dem Titel „Der verlassene Patient – Risikofall Krankheit“, denn Vogt ist überzeugt: „Eine Medizin, die nur behandelt, kommt immer zu spät. Wir müssen krankmachende Lebensverhältnisse verhindern.“

Operation


Vogt trägt wesentlich zur Aufdeckung von Medizinverbrechen während der NS-Zeit bei. Bei seinen Recherchen stößt er auf den Gerichtspsychiater Heinrich Gross, der in der Wiener Euthanasie-Klinik Am Spiegelgrund Kinder getötet hatte. Eines der überlebenden Kinder ist Friedrich Zawrel. 1979 wird er von Gross in einem Gutachten als „aktiv soziopathischer Hangtäter“ bezeichnet. Der Grund: Zawrel hatte in Heinrich Gross jenen Mann erkannt, der ihn als Kind mit Giftspritzen und Prügeln misshandelt hat. Er sollte also weggesperrt werden; das Ansehen des Primars, der 12.000 Gerichtsgutachten verfasst hatte, sollte dafür ausreichen. Vogt aber reist zu einem Kongress über „Tötungsdelikte von Schizophrenen“, bei dem Gross referiert, fordert eine Themenänderung: Über Tötungsdelikte AN und nicht VON Kranken solle berichtet werden, Gross habe hier hundertfache Erfahrung. Er wird aus dem Saal gewiesen; keiner der Kollegen geht auf die Tötungsdelikte am Spiegelgrund ein. Doch als Heinrich Gross den Unbequemen wegen übler Nachrede klagt, bekommt der Aufdecker Recht. Die Richter sehen es „als erwiesen an, dass der Privatkläger Dr. Gross an Tötungen von Kindern im Rahmen des Euthanasieprogramms von Adolf Hitler mitbeteiligt war“.

An der Karriere von Primar Heinrich Gross ändert das nichts. Zwei Gerichtsurteile und eine Anklage wegen Mitbeteiligung an der Euthanasie in neun Fällen sind nie ein Fall für das ärztliche Disziplinargericht geworden. Und als Gross im Jahr 2000 wegen des Verbrechens des Mordes vor Gericht steht, kann er wegen fortschreitender Demenz, diagnostiziert von Gerichtspsychiater Reinhard Haller, am Gerichtsverfahren nicht teilnehmen. Vogt ist erbittert. „Jahre hindurch und in zwei Gerichtsverfahren (1950, 1981) hat Gross sich an nichts oder nur ungenau an seine Tätigkeit als Euthanasiearzt erinnern können. Diese Vergesslichkeit hat sich bis zum Jahr 2000 zu einer fortschreitenden, rettenden Demenz ausgewachsen. Und da aus einer fortschreitenden Demenz eines schuldigen Gerichtspsychiaters Gross niemals eine rückläufige wird, beruft er sich in seinen hellen Momenten auf seine Unschuld (§ 7b Mediengesetz) oder seine Ehre § 6/1 Mediengesetz) und klagt „Die Presse“, „Das Wespennest“, den ORF, kassiert sogar 30.000 Schilling Schmerzensgeld, denn an seine Unschuld kann er sich erinnern. Der Verhandlungsunfähige kann also klagen und gewinnt hin und wieder. Das ist die österreichische Nachkriegs-Justiz.“

Sozialstaat Österreich


Unser Gesundheitssystem sei tendenziell menschenfeindlich, klagt Vogt – und initiiert 2002 das Volksbegehren „Sozialstaat Österreich“, das von mehr als 700.000 Menschen unterstützt wird. „All das viele Geld kommt aus Beiträgen der Sozialversicherten, aus Steuern der Staatsbürger und aus unzumutbaren Selbstbehalten“, schimpft Vogt. „Alle zahlen dreimal für die erbrachten Leistungen im ambulanten und stationären System. Aber den Patienten redet man ein, sie konsumierten eine Gratismedizin.“
Wenn das kein klarer Befund ist!

 

Werner Vogt, Mein Arztroman. Ein Lebensbericht, 320 Seiten, 22,50 Euro
ISBN 978 3902494535, Edition Steinbauer, Wien 2013