Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Ingrid Bertel · 01. Apr 2015 · Literatur

Der Hang zum Schönen - „Frau Grete und der Hang zum Schönen“ von Christian Futscher

Als Pächter eines Heurigen in der Wiener Josefstadt lernte Christian Futscher die Frau Grete kennen. Als Autor war er von ihren Erzählungen fasziniert. Er hörte zu, schrieb auf und legt jetzt ein Buch von derbem Witz und herbem Charme vor - ein Zeitdokument von unerhörter Authentizität: „Frau Grete und der Hang zum Schönen“.

Die früheste Erinnerung der Frau Grete stammt aus dem Februar 1934. Es ist eine Erinnerung an die Kämpfe im Liebknechthof, gebündelt im Blick des älteren Bruders. Der ist auf’s Fensterbrett geklettert und ruft: „Mutter, Mutter, den Edlauer hängen’s auf!“ 80 Jahre später formuliert Frau Grete, um Worte ringend: „Also das habe ich mitgekriegt, das war für mich eigentlich sehr gravierend.“ Der Schrecken hallt nach in einem Fremdwort. Denn sonst bleibt die Frau Grete immer am Boden, auch sprachlich.
Das Erhängen eines Nachbarn bleibt allerdings nicht das einzige traumatische Erlebnis der Fünfjährigen. Die Mutter bietet dem ein Stockwerk über ihr praktizierenden Arzt an, Verletzte in ihrer Wohnung auf die Versorgung warten zu lassen. In der Folge wird die alleinerziehende Mutter von vier Kindern zur Strafe delogiert. Und weil eine Obdachlose keine Kinder versorgen kann, werden ihr die auch weggenommen. Frau Grete hat eine, wie sie sagt „dominante“ Mutter, der es gelingt, die Kinder zurückzubekommen, eine Wohnung aufzutreiben, Blumensträuße am Eingangstor zum Friedhof zu verkaufen und damit die Familie irgendwie durchzubringen.

Die stolze Rede


Was die Frau Grete zu erzählen hat, ist Zeitgeschichte aus ungewohnter Perspektive. Hier positioniert sich nicht eine Historikerin mit außergewöhnlichem dokumentarischen Material, hier erinnert sich eine Frau an ihr Leben. Hier erhebt jemand seine Stimme, der nach den gesellschaftlichen Regeln, die immer noch gelten, gar keine Stimme haben dürfte. Aber die Frau Grete ist stolz auf ihre „Gosch’n“ und erweist sich als eine erzählerische Naturgewalt – und Christian Futscher hat die große Begabung eines genauen Zuhörens und Mitschreibens.

Die Frau Grete aber redet nie um den heißen Brei herum. Alles wird direkt benannt, beschrieben. Immer wieder etwa der Unfalltod des Vaters zu einem Zeitpunkt, als es „noch gar keine Autos“ gab: „Bei meinem Vater war gleich Gehirnaustritt, und die Knackwurst hat er noch im Mund gehabt.“ Es sind akkurat solche Details, die Authentizität und eine unerhörte erzählerische Wucht ausmachen. Und es ist der geradezu kommunikationswissenschaftlich geschulte Blick der Frau Grete, der fasziniert. Dass sie nie aufgeklärt wurde, dass sie ihrer Mutter Fragen stellte, die diese ganz und gar missverstand, davon erzählt Frau Grete mit bemerkenswerter Trockenheit. „Einmal habe ich meine Mutter gefragt: 'Na, wo hast denn du deine Kinder her?' 'Blödes Mensch, du!', hat meine Mutter gesagt und hat mir eine Mordsfotzen gegeben.“

Der Hang zum Schönen


Die Elfjährige erlebt die Segnungen einer Kinderlandverschickung nach Breslau: „… da war ich bei einer Postratswitwe und da hab ich diese färbigen Gläser gesehen! Die Gläser waren in einer altdeutschen Kredenz, und ich hab gefragt: ‚Darf ich sie angreifen?’ Dann hab ich gesagt: ‚Und einmal krieg ich auch solche Gläser!’ Da war das schon drin in mir, der Hang zum Schönen. ‚Und einmal krieg ich auch solche Gläser!’ Ich hab eh nur 30 Jahre darauf gewartet, oder 32 Jahre, bis ich sie gekriegt hab.“

Das Rührende dieses „Hangs zum Schönen“ wird, wie alles andere, in Dialogen berichtet. Immer ist die Frau im höchst lebendigen Kontakt mit den Menschen, denen sie begegnet. Alles erlebt sie in der Kommunikation. Was ihr allerdings die Rede verschlägt, ist der Nationalsozialismus. Einer ihrer Brüder kommt wegen Wehrkraftzersetzung in ein Militärstraflager, und Frau Grete ist beinahe stumm, wenn sie vom Besuch ihrer Mutter beim sterbenden Sohn berichtet. „Weil die haben ja nur Wassersuppe und Brot gekriegt und sind praktisch von Verbrechern bewacht worden. Nicht nur Militär hat sie bewacht, sondern auch Strafgefangene, Lebenslängliche und so…“ Frau Grete macht nicht viele Worte um das Unrecht, sie stellt es klar heraus.

Die Wärme in dieser Familie, ihr Zusammenhalt – das alles ist immer höchst gefährdet. Grete hat das schon als kleines Mädchen erfahren, als sie zu Pflegefamilien gegeben wurde. Einer ihrer Brüder, „der schräge Otto“, verlässt die Mutter mit zehn. Fünf Jahre später kehrt er zurück, erzählt ohne den Funken einer Sentimentalität von seiner zerbrochenen Kindheit und wird Altwarenhändler. Das Urteil seiner Schwester über diesen verlorenen Bruder ist brutal und knapp: „…trinkt nix, raucht nix … Menschlich gesehen ist er ein Trottel.“ Wer das schöne Leben nicht ausschöpft, hat es nicht verdient.

Die schönen Männer


Der erste unter den Männern der Frau Grete ist der schöne Hirschfeld. Er hat – wie auch die folgenden Männer – eine äußerst dominante Mutter. Wie sich das anfühlt, weiß die Frau Grete ja aus eigener Erfahrung. Deshalb ist sie in den zahllosen Konflikten mit Mutter Hirschfeld auch nicht auf den Mund gefallen: „Sagt meine Schwiegermutter zu mir: ‚Sag einmal, wann wirst du endlich die Gosch‘n halten!’ Hab ich gesagt: ‚Mama, erst wenn mich mein Mann standesgemäß ernährt und kleidet’, sag ich, ‚und vielleicht, dass ich sie dann halt, aber das ist auch nicht sicher.’“

Die Bilanz dieser ersten Ehe fällt nüchtern aus:  „Na, der Hirschfeld – das war ein Kapitel, da ist es gescheiter, man schweigt darüber.“ Als nächstes heiratet Frau Grete „den Seifert“, wehrt sich erfolgreich dagegen, dass der bei seiner Mutter im Bett schläft und trifft sich zum Sex mit ihm in Stundenhotels. Dort beginnt sie auch ihre berufliche Laufbahn. „Na, ich hab ins volle Menschenleben gegriffen, na, was heißt … das war furchtbar!“ Dabei wollte sie ja immer in die Modebranche, der schönen Kleider wegen. „Also ich hab immer irgendwie den Hang zum Schönen gehabt, das war immer irgendwie in mir …“

Das schöne Schimpfen


„Der Seifert“ und die Nachkriegszeit lassen Frau Grete keine Wahl. Sie wird in jeder Hinsicht aufgeklärt. Den Hang zum Schönen pflegt sie insgeheim. Als „der Seifert“ einer Bekannten eine Abtreibung ermöglicht, weiß sie, wofür die „eiserne Ration“ der ehemaligen Soldaten dient: „… da war drin: ein Packerl Kekse, eine Schokolad‘, zwei, drei Zigaretten und Chinin-Tabletten. Mit Chinin hast du auch abtreiben können, wenn du genügend gehabt hast.“

Mitten in den verlogenen 50er-Jahren legt Frau Grete alle Karten auf den Tisch. Dabei liebt sie die Arbeit in ihren Hotels, erfährt diese Arbeit als persönliche Erfolgsgeschichte: „Ich hab die Arbeit gemacht, wo heute eine Hotelfachschule dazu gehört, ich hab mir alles selbst gelernt und hab meinen Mann gestanden.“ Als sie aus dem Hotel gemobbt wird, fallen harte Worte. Schuld habe „der Seitz“, ein kleiner Mann, von dem sie sagt: „Je kleiner der Dreck, umso mehr stinkt er. Die haben einen Geltungsdrang.“
Den Geltungsdrang hat allerdings auch der Sohn der Frau Grete. Und Erich darf in Begleitung seiner Mutter alles, was Kinder nicht dürfen, rauchen zum Beispiel. Dass er als Alkoholiker früh stirbt, sieht die Mutter kühl – und ist dabei absolut herzzerreißend.
Was bleibt der alten Frau? Eine Mittwochsrunde im Heurigen, Schmäh führen beim Billa und den Gummibaum anschnauzen, wenn er nicht gedeiht, und zwar Böhmisch‘: „… da hab ich zu ihm gesagt: „Swinje prase a stará kráva!“, das heißt: dreckige Drecksau, dreckiges Schwein und alte Kuh.“

Das schöne Leben


Die Frau Grete jammert nicht. Sie zieht sich schön an, geht zum Friseur und weiß, wie gut sie erzählen kann. Stolz verweist sie auf ihre schöne Lebensphilosophie: „Ich war eigentlich immer irgendwie zufrieden mit mir, ob dünn, ob dick, also ich war nicht unzufrieden mit mir, und ich glaube, das ist auch die Lebenseinstellung.“

Christian Futscher hat die Erzählungen der Frau Grete vor sechs Jahren notiert und das Buch im Eigenverlag herausgegeben – als Geburtstagsgeschenk für eine schöne Frau. Jetzt ist der Czernin Verlag drauf gekommen, welches Juwel diese Erzählungen darstellen. Dafür sei ihm gedankt. Dem wachen Zuhörer und Mitschreiber sowieso!

 

 

Christian Futscher, „Frau Grete und der Hang zum Schönen“, 208 Seiten, Euro 19,90, ISBN 978-3-7076-0527-3, Czernin Verlag