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Ingrid Bertel · 02. Sep 2021 · Literatur

Der charismatische Kater

Sieben Leben als Erzähler, Prediger, Leser und Philosoph führt der Kater Matou in Michael Köhlmeiers neuem Roman – sieben Leben, die einem Menschenleben und 250 Jahren Geschichte entsprechen und die alles zusammenfassen, was Michael Köhlmeier geschrieben, gelesen, gedacht hat. Die Katerfragen dabei: Wie hälst Du’s mit der Wahrheit? Bringt Charisma ein gutes Leben? Und überhaupt: was ist der Mensch?

An einem milden, sonnigen Nachmittag sitzt in der Prager Brückenmühlgasse ein Kater am Fensterbrett und singt „,I Muetters Stübile‘. Merkwürdig genug, dass ein Kater singt. Aber dann noch ein Volkslied, das zwar in Vorarlberg jedes Kind kennt, in Prag aber gewiss keines! Nun kann Matou eben mehr als „jagen, quälen, morden“. Er kennt Lieder von Schubert bis zu den Rolling Stones, außerdem all die Märchen, die Michael Köhlmeier erzählt hat. Er interessiert sich für Linguistik und zitiert Kant und Hegel, Schopenhauer und Montesquieu. In seine Geschichten mischen sich bisweilen Sätze von Georg Büchner oder Franz Kafka, unter seine Gedichte solche von Eichendorff oder Goethe. Mit Matou hat sich Michael Köhlmeier eine Figur geschaffen, die ihm jede Freiheit ermöglicht – das ganze unermessliche Glück am Erzählen, Fabulieren, Fantasieren und Philosophieren!

Eine Geschichte der Aufklärung von der Französischen Gegenwart bis heute

Sieben Leben hat eine kontinentale Katze, eine britisch-amerikanische dagegen neun, und das findet Matou schon etwas ungerecht. Immerhin, auch mit sieben Leben kann sich einer umtun auf der Welt. Und wenn er so hübsch ist wie Matou (kupferrotes Fell, weiße Schwanzspitze und weiße Tupfen auf den Pfoten), findet er überall freundliche Aufnahme, sollte man meinen. Selbst wenn er durchaus hohe Ansprüche hat.
„Ich musste zwei Leben leben, ehe ich begriff, dass der Verstand die Wahrheit nicht erschafft, sondern sie vorfindet, und abermals zwei Leben, um daran wieder zu zweifeln.“ Das ist eine poetologisch relevante Frage, und der Schriftsteller Sebastian Lukasser, der da am Ende des Romans eine Gastvorlesung zur Poetik hält, äußert die Meinung, die Wahrheit werde überschätzt.
„Der Mann ist klein und bemerkenswert ungewöhnlich gekleidet. Eine Figur hat er wie ein Hydrant. Kurzer Hals. Kampfbereit. Er trägt eine grob karierte Jacke, halb englischer Landmann, halb bayerischer Gastwirt, darunter ein grob kariertes Flanellhemd und eine grob gestreifte Krawatte, die weder zur Jacke noch zum Hemd passt, dazu dunkelbraune grobe Schnürlsamthosen und grobe knöchelhohe Schuhe. Die Haare verstrubbelt. Brille.“ Das ist von Kopf bis Fuß Michael Köhlmeier.

Wahrheit und Erfindung

Wichtig an der Frage Wahrheit oder Erfindung sei, so doziert Lukasser, „wie Autoren vorgehen, wenn sie reale Begebenheiten und wirkliche Persönlichkeiten im Text auf eine Weise behandeln, als wären sie erfunden, und umgekehrt, wie erfundene Begebenheiten und Personen so dargestellt werden, dass sie als historisch wahrhaftig erscheinen.“
Der Student Daniel, Matous Herr im letzten seiner sieben Leben, möchte nämlich einen Roman schreiben, und zwar über Konrad Adenauer und Charles de Gaulle. Daniel Kehlmann hat auch über zwei historische Persönlichkeiten geschrieben, weiß Matou. Und Michael Köhlmeier auch.
„Ich an eurer Stelle würde nichts anderes tun als lesen und schreiben – neben jagen, quälen und morden.“
Historische Persönlichkeiten spielen eine große Rolle in den sieben Leben, von denen Matou berichten will. Gleich das erste führt ihn nach Paris, zu Lucile und Camille Desmoulins. Fröhlich sind die beiden und sehr liebevoll. Aber in den Augen von Robespierre, von Saint-Just, Marat und Danton haben sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht. „Mon crime“, sagt Desmoulins, „mon seul crime est d’avoir versé des larmes.“ Weil er Mitleid zeigt mit den Menschen und den Tieren, wird ihm der Kopf abgehackt. Unter der Guillotine spricht Matou seine ersten Worte in Menschensprache.

Charisma

Er trifft auf eine alte Siamkatze, die ihm erzählt, „dass der Herr Jesus Christ eine gewisse Verwandtschaft mit uns Katzen habe, denn auch er sei nach dem Tod wiederauferstanden …“ Den Herrn Jesus Christ habe sie noch gekannt. Der habe das Charisma erfunden, „dieses seltsame unsichtbare Ding, hinter dem die Revolutionäre her seien wie wir Katzen hinter den fetten sichtbaren weißen Klostermäusen“.
Charisma wäre eine Lösung für Daniel, überlegt Matou. Denn Daniel ist unglücklich verliebt in Vera – die nämlich erliegt dem Charme von Julius. Charme kann man nicht lernen, behauptet Matou, Charisma aber schon. Dafür müsse man in erster Linie unberechenbar sein und außerdem sich größer machen als man ist. „Es spielt keine Rolle, wer oder was du bist, sondern als wer oder was du in den Augen der anderen erscheinst.“ Zum Beispiel als Intellektueller. Matou bietet also Daniel seine Hilfe bei einer Seminararbeit über die Französische Revolution an. Da weiß er alles aus eigener Erfahrung.

Katzbursch, Mauserink oder Murr

Kurz hat Matou ja erwogen, sein zweites Leben bei Georg Büchner zu verbringen. Dem hätte er bei seinem Stück über Dantons Tod behilflich sein können. „Aber dann erfuhr ich, dass der junge Dichter selbst ein Revolutionär war, einer wie mein Camille“ – und noch eine Hinrichtung will Matou nicht erleben. Er entscheidet sich für einen anderen Dichter, nämlich E.T.A. Hoffmann, weil er „erstens leise sprach, zweitens mich immer anders nannte, öfter ,Murr‘ manchmal ,Berganza‘, dann wieder ,Katzbursch‘, ,Mauserink‘ oder ,Anselmus‘. Gerade aus dem, was er sagte, konnte ich erschließen, dass er mich meinte.“
Ihm und seiner Frau Mischa offenbart sich Matou als sprechender Kater, und Hoffmann revanchiert sich und bringt ihm Lesen und Schreiben bei.
„Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn“. Erzählen scheinbar auch. Denn Hoffmann schreibt einen Roman über Matou – und wir Leser*innen genießen das Spiel genauso wie Michael Köhlmeier wohl seine Freude daran hatte. Dass wir Geschichten immer neu lesen können, ist eine alte Katzenweisheit. Schon Lewis Carrolls Grinsekatze kannte die.

„Was it a cat, I saw?“

Sein drittes Leben verbringt Matou unter Tieren auf der griechischen Katzeninsel Hydra. Er überlegt, das Evangelium nach Matou zu schreiben und erzählt den Katzen: „Es war einmal ein König … der war in einem Stall geboren, aber Könige besuchten ihn, die waren aus Gold, Weihrauch und Mühe, und als er groß war, zog er umher, und seine Brüder zogen mit ihm, und er machte aus wenigen Fischen viele …“ Ob er dieser König sei, fragen die Katzen. Matou hält sicherheitshalber das Mäulchen, wird aber doch Diktator. Schließlich hat er jetzt gelernt, wie das funktioniert mit dem Charisma. Schön ist es nicht und auch ganz und gar nicht liebenswert.

Ins Herz der Finsternis

Sein viertes Leben führt Matou in die bluttriefende Kongogesellschaft des belgischen Königs Leopold II. Er ist jetzt ein Leopard und schiebt das „Mädchen auf seinen hölzernen Rädchen“ vor sich her, jenes Märchenkind, dem die Weißen die Augen ausgestochen und die Füße abgehackt haben.

„alle, alle kommt gelaufen,
bin ich doch ein Kind und klein,
alle, alle kommt mir helfen,
spannt euch vor mein Wägelein!“

Es sind Lieder aus Michael Köhlmeiers Stück „Lamm Gottes“, die jetzt erklingen. Und wie im Märchen vom Herrn Korbes, das er so oft erzählt hat, versammeln sich die Tiere und die Dinge zum unheimlichen Heer, das die Kolonisatoren mordet. Im Haus eines Verwaltungsbeamten entdeckt Matou einen Band der Essays von Michel de Montaigne. Er haucht dessen stoische Empfehlungen zum Sterben dem Befehl habenden Offizier Théophile Auguste ins Gesicht: „Wo der Tod auf uns wartet, ist unbestimmt. Wir wollen überall auf ihn gefasst sein.“ Montaigne als Anleitung zum Morden? Michael Köhlmeier kann ziemlich böse sein in seinem Umgang mit Philosophie und Religion, aber an dieser Stelle hat Matou eine Einsicht: „Böse ist, wenn man mit etwas nicht aufhören kann. Gut ist, wenn man damit aufhören kann.“
Zwischen seinen verschiedenen Leben hält sich Matou im „Weggemachten“ auf, dort, wo alle Verletzungen verschwinden, dort, wo er von einem „munkelbraunen“ Kater empfangen wird, und es ist schon reizend, wie Michael Köhlmeier ein kleines Dialektwort in seinen fast 1000-seitigen Roman schmuggelt – ein Dialektwort, das diesem dezenten Engel so sehr entspricht, dass ihm Matou, als der „Munkelbraune“ in Pension geht, eine fulminante Rede hält. Thema: Montequieus Philosophie des Sterbens und die Frage „Was ist der Mensch“.

Irrsinn

Für sein nächstes Leben aber sucht er nach jemandem, der etwas von Psychologie versteht. Sigmund Freud käme naturgemäß in Frage, Alfred Adler, Helene Deutsch, Karl Gustav Jung, Lou Andreas-Salomé, aber Matou entscheidet sich für das Ehepaar Paulina und Michal Barton in Prag. Eine gute Entscheidung, denn er darf Paulina zu ihren Kursen an der Akademie der bildenden Künste begleiten. Dort hört er den Bericht des Affen Rotpeter „für eine Akademie“. Wer anders könnte besser Bescheid wissen was der Mensch ist, als Kafka, der große Franz Kafka, der Erfinder von Rotpeters Ansichten und Einsichten.
Warum, fragt Matou, will Rotpeter seine Gefährtin bei Tag nicht sehen? Er denkt nach über jedes einzelne Wort in Kafkas Satz: „Sie hat den Irrsinn des verwirrten dressierten Tieres im Blick.“ Was heißt Irrsinn? Der Irrsinnige „sieht die Dinge, wie sie sind, jedes Ding für sich, keines in Beziehung zu einem anderen. Der Irrsinnige irrt durch einen Wald von Dingen, und es gelingt ihm nicht, die Dinge zueinander in Beziehung zu setzen. Es gelingt ihm nicht, der Welt einen Sinn zu geben; denn Sinn ist nichts anderes als die Verbindung der Dinge untereinander und in der Welt – wenn sich das Eine auf das Andere bezieht, wenn das Eine durch das Andere Deutung erfährt und dadurch Bedeutung gewinnt. Der Irrsinnige irrt durch eine Welt ohne Sinn.“

Andy sieht fern

Nicht dass ein Kater auf Sinn angewiesen wäre! Matou hat gute Gründe, ein Tier bleiben zu wollen und empfindet Mitleid für Rotpeter. Mitleid wie ein Mensch, Mitleid wie Camille Desmoulins. Da begibt er sich nach New York zu Andy Warhol und in eine unendliche Kette von Parties. Wenn die beiden dann erschöpft zu Hause anlangen, liegen sie vor dem Fernseher und schauen sich alte Filme an: „Im Siebten ist Johnny Allegro mit George Raft und Nina Foch. Im Neunten Johnny Angel mit George Raft und Claire Trevor. Im Elften JohnnyApollo mit Tyrone Power und Dorothy Lamour. Im Dreizehnten ist Johnny Concho mit Frank Sinatra und Phyllis Kirk. Im Zweiten ist Johnny Dark mit Tony Curtis und Piper Laurie. Im Vierten Johnny Eager mit Robert Taylor und Lana Turner. Im Fünften Johnny O’Clock mit Dirk Powell und Evelyn Kayes. Im Einunddreißigsten ist Johnny Trouble mit Stuart Whitman und Ethel Barrymore.“
Nein, Andy liest keine Bücher, und die vielen Johnnys sind ihm nicht zu öde. Als Matou doch hartnäckig nach Büchern fragt, lässt er sich von Freunden beschenken. Was bringen die? Comics und Krimis, nichts was Matou in seinen früheren Leben auf langen Listen als interessant notiert hat. Dafür lädt er interessante Leute in sein Haus, Noam Chomsky und Susan Sontag zum Beispiel. Sie diskutieren die Frage „Ist Gott eine Metapher?“ Matou mischt sich ein – und da glauben die klugen Köpfe, sie seien auf einem Trip. Ob sie einfach nur einem Charismatiker erlegen sind? 

 Michael Köhlmeier: Matou, Hanser Verlag, 2021, Hardcover, 960 Seiten, ISBN 978-3-446-27079-4, € 35