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Florian Gucher · 17. Mai 2022 · Literatur

Ausbuchtungen und Ungereimtheiten - zu Daniel Nachbaurs neuem Erzählband

„Soll es brennen.“ Passender hätte man den Titel des 160 Seiten umfassenden Erzählbandes nicht wählen können. Drei Worte, eine ganze Geschichte und eine Metapher davon, wie das Leben spielt und was man daraus macht.

Meist reicht dem Vorarlberger Schriftsteller Daniel Nachbaur eine reduzierte Sprache, sowie er geschickt mit der Wortwahl jongliert und vieles gleichzeitig anspricht. Nachbaur will nah an den Leser:innen bleiben, seine Figuren ticken nicht anders. Gekonnt spielt der im Jahre 1978 in Feldkirch geborene Literaturwissenschaftler auf den Lauf der Dinge im Leben an, unerkennbar an uns vorbeiziehend und doch Selbstverständlichkeiten ad absurdum führend. Ausbuchtungen im flach und eintönig laufenden Tal des Lebens, die so unscheinbar und zufällig kommen, wie sie wieder vergehen, um als Fragezeichen im Kopf hängen zu bleiben. Rückkehr zur Tagesordnung oder Verfolgungszug nach der brennenden Sehnsucht? Im Buch von Nachbaur sind es ganz in Analogie zum Leben die mannigfaltigen, vor die Wahl stellenden Wege. Ausgang unbekannt. Bewusste Entscheidungen enthält uns der Autor ausdrücklich vor. Und er liebt das offene Ende, weil es zur eigenen Lösungssuche drängt.

Kompass der inneren Landschaft

Nachbaurs Texte sind nachsinnend und verweigern Eindeutigkeit. Sowie er auf ergreifende Weise in natürlichen Erscheinungen etwas den Menschen Innewohnendes findet und Seelenzustände durch landschaftliche Phänomene abbildet. Da mäandern die Gedanken bergauf und bergab durch Tal und Erhebung, um rastlos umherirrend auf das Unbewusste zu stoßen. Auf etwas plötzlich neu Entdecktes, das auch wenn es noch so klein ist, den Trott des Alltags aufbricht und einbricht in die gleichschreitende Lebenswelt der Protagonist:innen. Nachbaur ist ein Meister darin, menschliche Gefühlswelten in Dialog mit landschaftlichen Phänomenen treten zu lassen und das Terrain an Parallelen zwischen Natur und Mensch abzugrasen. Scheinbar formt die Landschaft den Menschen und macht ihn zu dem, was er ist. Gleichzeitig ist sie es, die das menschliche Leben konterkariert und wie selbstverständlich ihren Lauf geht, ungesehen dessen, was sich in der Gesellschaft abspielt. „Wie es wäre, wenn in diesem Land und in dieser Stadt morgen schon die brutale Diktatur ausbräche? Von hier oben müsste es gar keine Anzeichen für eine Veränderung geben“, so an einer Stelle des Werkes.

Existentielle Fragen

Es sind nicht große Ereignisse, sondern vielmehr die den Menschen prägenden Momente, die das Buch abhandelt. Wenn eine Mutter in einer Erzählung gedanklich in die Weite der Landschaft abdriftet, sich in Abgründe und Tiefen verstrickt hat, kreisend um die Frage nach ihrer Bestimmung, bildet Nachbaur das Leben ab. Durchgängig, aber nebenbei webt er die großen Fragen unseres Daseins in den kleinen Rahmen ein, fast existentiell muten sie schon an, wie sie ihren Ausgangspunkt im Rad der tagtäglichen Routine nehmen, um punktuell auszubrechen und Grundlegendes infrage zu stellen. Schließlich geben Ausbrüche und Unregelmäßigkeiten erst Anlass zur Veränderung. Was die Erzählungen des Bandes zusammenhält, scheint von existentieller Natur. Den Anfang als unbekümmerter, oft etwas naiver Austritt aus dem bekannten Lauf des Lebens nehmend, stellen sich Gegebenheiten auf den Kopf. Wenn ein einsamer Kolumnenschreiber am Heiligen Abend Besuch von Kindern als Überbringer des Friedenslichtes erhält und aus seiner Routine herausgerissen wird, gewinnt dann die in jedem Menschen innwohnende Emotionalität Oberhand oder bleibt der gefühlskalte Rationalismus bestehen? Sein „Soll es brennen“ ist vielstimmig.

Kleine Ausbrüche

Realitätsgetreu erzählt Nachbaur von Dingen, die nicht fern sind, nichts Großartiges und doch etwas, das den Gang des Lebens wie mit dem Hammer auf den Nagel trifft. Dann und wann brechen kurzzeitig Absurditäten ein, die trotz Distanz zum Alltag keineswegs unglaubwürdig wirken, weil sie jeden und jede treffen können. Mal ehrlich: Unser aller Leben scheint von grotesken Erscheinungen durchzogen. Nachbaur schert auch in den skurrilen Szenen nicht aus unserer Lebenswelt aus, im Gegenteil: sie bereichern sie um eine weitere, notwendige Facette: „Eine gewisse Distanz zum Alltag in Form absurder Erlebnisse bringt die Figuren erst dazu, mit anderen Augen auf das Leben zu blicken. Wenngleich es in meinen Geschichten offenbleibt, ob dieses Ereignis Veränderungen herbeiführt oder die Routine letztlich obsiegt“, erklärt der Autor, dem die Gattung der Kurzgeschichte aufgrund der Nähe zum realen Leben zusagt: „Das Leben läuft nicht immer romanhaft, die kleinen Ausbrüche aus dem Leben sind meist nur Episoden. Und gerade diese Unregelmäßigkeiten kann die Kurzgeschichte gut abbilden.“

Von der Utopie zur Realität

Mitunter strotzen die Sätze von Vergleichen, die authentisch Gefühle aus dem Innenleben der Figuren auf die Außenwelt übertragen. Es scheint, als ob die tief im Inneren verborgenen Gefühle zu den Leser:innen transportiert werden, intensiv und ohne Verlust. Nehmen wir das Fabulieren der Orgel am Hochzeitstag in einer Geschichte als Gefühl von der Unumstößlichkeit des ewigen Bundes der Liebe, das zeitgleich einen kalten Schauer über den Rücken gleiten lässt. Mit mächtigen Satzkonstruktionen und Querverweisen lässt Nachbaur Sätze entstehen, die trotz ihrer Vielschichtigkeit einprägsam bleiben und dazu anregen, über Existentielles nachzudenken. Gedanken schweifen ab und die Realität macht den Träumen kurz Platz, um den Menschen dann mit Wucht auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Mit einer erweiterten Perspektive wohlgemerkt. Utopie trifft auf Wirklichkeit. Wenn in einer Erzählung ein gescheiterter Vorstandsvorsitzender während seinem REHA-Aufenthalt darüber sinniert, mithilfe einer Baufirma aus Dubai ein ganzes Gletschergebiet mit einer voll akklimatisierten Kuppel zu überdachen, die gleichzeitig ökologischen wie wirtschaftlichen Nutzen bringt. In Wahrheit ist er ein gescheiterter Investor, von allen Seiten zermürbt, nicht zuletzt vom eigenen Leistungsdruck. Die Seilbahnen des Skigebietes sind von seinem Fenster aus sichtbar und so nah, dass sie nicht aus dem Blickfeld verschwinden können. Sie verfolgen ihn, wie einen Gefangenen, der unglücklich in seiner selbst gebauten Zelle verharrt. Kommt er jemals aus seiner Haut heraus?

Das Leben - ein ewiger Prozess

Verborgen in den kleinsten Ungereimtheiten des Alltagstrotts klappert Nachbaur Fragen einer höheren metaphysischen Ebene ab. Dann wird er vielseitig, zeigt die Vielzahl an möglichen Abzweigungen auf, um sie letztendlich im luftleeren Raum stehen zu lassen. Eindeutige Richtungsweisungen vorenthaltend, versetzt er den „Heile-Welt-Gedanken“ in Aufruhr, lässt im Dunkeln tappen. Nachbaur versetzt Berge. Sowie sich die Protagonist:innen am Ende, angeregt durch die ihnen überkommenden Ereignisse, die Frage stellen müssen, ob sie weitermachen wie bisher, regt er auch das Publikum zum Nachsinnen über grundlegende Fragen an. Vernunft oder Emotion? Leben oder Tod? Glück oder Unglück? Fragen, die in der Hektik des Tuns übersehen werden und doch so unumgänglich sind. Nachbaur holt sie ans Tageslicht. Mit wortstarken Formulierungen und einer ausgefeilten Sprache, die den Wert des Banalen erkennt und hinter die Oberfläche blickt.

Daniel Nachbaur: Soll es brennen. Edition Tandem, Salzburg 2022, gebunden, 160 Seiten, ISBN: 978-3-904068-65-9, € 18