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Florian Gucher · 23. Okt 2022 · Literatur

Arno Camenisch: „Die Welt“ – wie ein Treibholz im Fluss

So sehr der Weg auch vorgezeichnet scheint, manchmal muss man feste Strukturen aufbrechen, um nicht unterzugehen. Vom Leben voller Abenteuerlust und gegen den schnöden Alltagstrott erzählt Arno Camenisch in seinem neuen Roman „Die Welt“. Gespeist von seinen eigenen Erlebnissen als Mittzwanziger sind es all die vom Autor dargelegten Bestimmungen, höheren Mächte und Bauchentscheidungen, die ein ganzes Leben umkrempeln können. Und der unstillbare Hunger nach unbekannter Kost. Adrenalingeladen und mit jugendlicher Leichtigkeit im Rücken geht´s dann Schlag auf Schlag, hinein in das Unentdeckte, Ungeplante mit einer Sprache, die so rasend schnell pulsierend und ratternd auf uns einprasselt, wie es die Unbeschwertheit des Lebens nur tun kann.

Von endlosen Aufbrüchen und Ankünften

„Dann wurde mir eine Stelle über fünf Jahre angeboten, es sollte eine leitende Stelle sein, ich war dreiundzwanzig und die Vorstellung, das Leben bis dreißig bereits durchgeplant zu haben, kam mir einem Gefängnis gleich.“ Aus diesem Gefühl heraus bricht der Ich-Erzähler aus der Enge der Schweizer Berge aus und sucht die Weite der Welt auf. Wie oft im Roman „Die Welt“ sind es Drehmomente, die aufhorchen lassen und dem Leben eine ganz andere Richtung vorgeben. Dinge, die Ewigkeitscharakter erhalten, so beiläufig sie auch geschehen. Arno Camenisch schreibt sich in seinem neuen Roman fast in Rage, wenn er von seiner Weltreise, anschließenden Rückkehr und dem folgenden Wiederaufbruch berichtet. Zeitgleich ist es auch seine persönliche Geschichte, die er erzählt. Gewissermaßen aus kritischer Distanz des reifen, erwachsenen Blickes, doch in den Mund eines knapp über Zwanzigjährigen gelegt, der mit einem vorgeplanten Leben so überhaupt nichts anfangen kann und ausbrechen muss. Aber wohlwissend, dass die Reise ihn verändern wird: „Das ,Wo‘ ist nicht so entscheidend, es geht vielmehr darum, was es mit einem macht, wenn man aufbricht. Dieses Gefühl liebe ich heute noch, das macht mich hellhörig“, so Camenisch. Dabei hat es durchwegs was mit der Zeit der Corona-Pandemie mit all ihren Einschränkungen zu tun, die ihn gedanklich zurück in seine Jahre des Umbruchs schweifen ließen und die Initialzündung zur Entstehung des Buches gaben: „Nachdem wir während zweier Jahre eingeschränkt waren, kommt alles wieder in Bewegung, es ist die Zeit des Aufbruchs und für Neues, und das hat mich an die Zeit erinnert, als ich in meinen Zwanzigern war, mein Leben auf den Kopf gestellt habe und über die Kontinente zog“, so der Autor, der Veränderungen nicht scheut: „Wenn die Zeit reif ist, muss man neue Wege gehen, ansonsten dreht man sich im Kreis. Vielleicht ist es nicht so zufällig, dass ich Schriftsteller geworden bin, ich mag es, wenn etwas offen ist, feste Strukturen engen mich ein.“

Auskleiden, was einengt

In Retrospektive lockt er die intensivsten, bleibenden Erfahrungen wieder ans Tageslicht und begründet, warum es wichtig sein kann, auf die innere Stimme zu hören. Unbeschwertheit trifft auf Tristesse und Einheitsbrei des Lebens ringt mit ihr, um aus dem Leben ein Fest zu machen. An vielen Stellen wirkt der Roman wie eine Hommage an das Reisen, bei einem genaueren Blick ist er mehr. Er huldigt den Mut, loszulassen, aus den vorgefertigten Schuhen auszutreten und Perspektiven auch mal umzukrempeln. Mit Anekdoten bereichert, ist es dann die Einsamkeit des Reisens, die sich durch den Roman hindurch spinnt und fernab aller flüchtigen und weniger flüchtigen Begegnungen, Bekanntschaften und Liebesgeschichten den Ton angibt. Sie lässt in gewisser Hinsicht erst zu sich selbst finden. Besondere Intensität erhält die Geschichte aber durch die verwendete Sprache: Kurze Sätze wechseln sich mit losen aneinandergereihten Satzgefügen mit mehreren Wiederholungen als Akzentsetzungen ab und geben den Ton vor, ganz im Sinne des unbeschwerten aber brausenden Lebensstils des jungen Protagonisten. Fließendes (Lese-)Erlebnis mit Stolpergefahr als formales Abbild des Inhalts, so könnte man sagen.

Zwei Ebenen im Dialog

Insgesamt ist „Die Welt“ weit mehr als eine individuelle Adoleszenzgeschichte. Was den Autor interessiert, ist der große Bogen, weshalb er eigene Erlebnisse in Kontext zu zeitaktuellen Entwicklungen setzt. Persönliches geht Hand in Hand mit Geschehnissen einer höheren Sphäre, verbunden mit dem unbekannten Ausgang, der alles auf den Kopf stellen wird. Beides hat Parallelen, beides ist im Wandel begriffen, ohne genau zu wissen, was kommt und wohin es geht. Die Geschichte des Autors als Getriebener, der die immerwährende Bewegung braucht, im Gemeinklang mit der beginnenden digitalen Revolution, der sich nähernden Klimakrise und ökologischen Herausforderungen, deren Ausmaß in den Nullerjahren noch nicht abzuschätzen, aber dennoch spürbar war. Dabei ist es der Ernst des Lebens, der trotz Heiterkeit zwischen den Zeilen mitschwingt. Seien es die der Welt zusetzenden Klimakatastrophen, sei es seine sich erst allmählich erholende Mutter in der Klinik oder die fußballspielenden Kinder in Slums, die nichts haben außer ihrem Traum vom großen Kicker. Ernste, verletzliche Momente gehören dazu, so wie sie immer wieder emporkeimen, selbst in Situationen, in denen alles federleicht scheint. Es geht darum, allen Umständen zum Trotz, die treibende Energie nicht zu verlieren. Das Konto ist leer, die Rückkehr in seine Heimat nach Chur unumgänglich. So bricht dann und wann auch wieder die Geradlinigkeit als Episode ins Leben des Protagonisten ein, bereit wieder einen neuen Ausweg zu finden. Wie beispielsweise in den Fahrten mit seiner Mutter im Fiat Spider als Momente der Freiheit. Bei der Rückkehr wird aber eines augenscheinlicher als alles andere. Er ist nicht mehr der, der vor einem Jahr gegangen ist. Und damit kommt Camenisch zum Clou der Geschichte: Das Reisen verändert, es ist eine Entwicklung, die einen auch persönlich in unbekannte Gefilde treibt und etwas mit einem macht: „Es war, als ziehe man wieder einen Mantel an, der während eines Jahres im Schrank gehangen hatte, dann aber irgendwann merkt, dass der Mantel nicht mehr passt, die Ärmel zu kurz sind und es einem zu eng da drin ist. Man kann nicht das Leben in den Schrank hängen und es sich ein Jahr später wieder überhängen, das geht nicht, das musste schiefgehen“, bringt es der Autor in seinem Roman auf den Punkt. Camenisch erzählt von Dingen, Erlebnissen oder Begegnungen, die gingen, aber auf ewig nachhallen.

Das Glück im Kleinen finden

Dann und wann ist es ganz bescheiden Anmutendes wie eine Liebesgeschichte, eine beiläufige Begegnung mit einem Taxifahrer oder ein unbedeutendes Fußballspiel – indem es poetisch zu etwas Großem deklariert wird und ihn stets mit einem Ort verbunden hält, erlangt es Ewigkeitscharakter. Aber auch die flüchtige Liebe zu Amélie, mit der er schöne Stunden verbringt und die ihn vielleicht an sein stürmisches Leben selbst erinnert, bleibt über die Zeiten hinweg präsent, ist es doch die Unentschlüsselbarkeit ihres Charakters, die ihm gefällt. Was aus ihr wird, bleibt in Schwebe, wie vieles in dem Buch. So manches Mal reisst auch bewusst gewollt der Faden ab, ohne ihn jemals wieder aufzunehmen. Und das ist auch gut so. Wie eine Ode des Lebens lässt Camenisch aus der Ferne emporgezogene Erinnerungsstücke erklingen, die in ihrer Intensität so präsent anmuten, als seien sie gestern geschehen. Über 20 Jahre später zeigt der Autor, wie prägend eine Reise als Reise auch zu sich selbst für das ganze weitere Dasein sein kann. Das Leben, seine Jugendliebe, die flüchtigen Bekanntschaften, sie alle zogen weiter in unbekannte Sphären. Das Leben besteht aus Ausbrüchen und Neuanfängen. Was bleibt, sind jene brachialen Momente, die Zeiten überdauern.

Arno Camenisch: Die Welt. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 138 Seiten, gebunden, ISBN: 978 3 257 07220 4, Euro 23,50

Lesung
27.10., 19.30 Uhr
Lüthy Schoch, Schaffhausen
www.buchhaus.ch