Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Peter Niedermair · 04. Dez 2013 · Literatur

Ari Rath . Ari heißt Löwe . Erinnerungen – Ein Leben gegen das Vergessen

Porzellangasse, Wien, 9. Bezirk. Auf Nr. 50 wohnte Ari mit seinem Bruder und den Eltern. Seiner Mutter Laura hat er die Erinnerungen gewidmet. Als er vier Jahre alt war, stürzte sie sich aus dem Fenster. Der Vater heiratete sieben Jahre später noch einmal. Rita, eigentlich Henriette, Liebermann, die, wie seine erste Mutter aus Galizien stammte. Ari bekam eine zweite Mutter. Die Familie blieb jedoch nur zwei Jahre zusammen, denn dann kam der Anschluss. Der Vater wurde verhaftet und nach Dachau deportiert. Seine beiden Söhne beschlossen, nach Palästina auszuwandern. Ari war fast 14. Sein Bruder Maxi-Meshulam drei Jahre älter.

Letzten Sommer sind wir mit ihm durch die Orte seiner Kindheit spaziert. Nr. 50 Porzellangasse; im Liechtensteinpark; die Schubert Schule in der Grünentorgasse, wo Marie Blesson vier Jahre seine Klassenlehrerin war; an der Ecke Grünentorgasse Müllnergasse der Müllner Tempel, der in der Reichspogromnacht in Brand gesteckt und zerstört wurde. Der jüdische Friedhof in der Seegasse, versteckt im Hof des Altersheims; das Lycée Francais, das ehemalige Fliegerkino; wir bleiben beim Gedenksymbol „Schlüssel gegen das Vergessen“, Servitengasse 1938, stehen. Spät nachts im Taxi ins Maimonides, ein jüdisches Seniorenheim draußen an der Donau Marina, wo Ari seit 2011 einen zweiten Wohnsitz hat. Er ist ein lebendiges Archiv. „Ari heißt Löwe. Erinnerungen“ ist der Titel des im Zsolnay Verlag erschienenen Buchs.

Im Nov. 1938 flieht er mit seinem Bruder nach Palästina. Von Triest mit der MS Galilea nach Haifa, einer ungewissen Zukunft entgegen. Stefanie Oswalt hat seine Erinnerungen aufgezeichnet. Er berichtet vom harten Leben als Kibbuznik, seinen Jahren in den USA im Dienst der zionistischen Jugendbewegung, dem mühsamen Aufbau des Staates Israel. Er erzählt von seiner journalistischen Arbeit als Chefredakteur und Herausgeber der Jerusalem Post und deren Rolle als Sprachrohr eines politisch liberalen Israel, seinen Begegnungen mit Konrad Adenauer und Ben-Gurion, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Anwar Sadat, Henry Kissinger, Indira Ghandi, Olof Palme, Bruno Kreisky. Eine wichtige Rolle spielt er in Österreich ab 1986, als mit der Wahl des vergesslichen Wehrmachtsoffiziers Kurt Waldheim eine politische Gegenbewegung entstand, das andere Österreich. Mit Franz Vranitzky diskutiert er die so genannte Opferthese Österreich als das erste „Opfer“ von Hitlers Plänen, Europa zu erobern. Im Nationalrat stellt Vranitzky 1993 klar, Österreich habe eine Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Ari Rath war unverzichtbar in den Lehrer- Seminaren in Israel, wo er als kritischer Historiker und Journalist zu den aktuellen politischen Ereignissen in Israel Stellung nahm. Vom 8. bis 11. Dez. kommt er zu drei Lesungen mit Diskussion sowie Schulbesuchen nach Vorarlberg. Mit Ari Rath führte Peter Niedermair das folgende Gespräch.

Mit der umstrittenen Wahl von Kurt Waldheim 1986 hat man in Österreich begonnen, sich mit der Nazi-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Du hast Waldheim 1986 in Wien persönlich getroffen.
Unter dem Motto „Wien ist anders“ hat die Stadt Wien nach der Wahl Waldheims im Oktober 1986 Journalisten eingeladen. Kurz nach meiner Ankunft war ich mit Leon Zelman im Akademie-Theater. Das erste Mal wurde Qualtingers „Der Herr Karl“ mit Erwin Steinhauer, zwei Tage nach Qualtingers Tod, aufgeführt. Die Aufführung wurde gleichzeitig zu einer Gedenkveranstaltung. Nach der Vorstellung stellte mir Zelman einen Journalisten vor, Gerold Christian, der Sprecher Kurt Waldheims.
Wir trafen uns am nächsten Tag in seinem Büro in der Hofburg, denn er wollte mit mir darüber sprechen, aus er aus dieser für ihn und für Österreich katastrophalen Lage herauskommen könnte. Waldheim hat nämlich in seiner Biographie nicht die Wahrheit gesagt. Er behauptete, er sei längere Zeit in Wien im Lazarett gewesen. Doch er war in Banja Luka im Stab von General Stahl. Und bekam nur kurzen Urlaub, um zu heiraten und seine Dissertation zu verteidigen.
Der Adjutant von General Stahl erzählte mir vor Jahren, dass Leutnant Kurt Waldheim die Aufgabe hatte, die Transporte nach und von Banja Luka zu koordinieren. Es gab eine eiserne Regel, dass sämtliche Züge, die mit Nachschub nach Banja Luka gekommen waren, nicht leer zurückfahren dürfen. Das bedeutete, dass die Züge mit gefangenen Partisanen und Juden zur Deportation beladen wurden. All das ist über den Schreibtisch von Kurt Waldheim gelaufen, d.h. er wusste genau, was los war.

Die Causa prima

Am Ende meines längeren Gesprächs mit Gerold Christian begleitet er mich zum Aufzug, doch der kam nicht leer herauf, sondern mit Waldheim. Wir hatten uns vorher schon in Jerusalem getroffen. Er wollte mit mir kurz sprechen. Waldheim erklärte mir, wie ihn das alles plage. Dass er in seiner Zeit in New York viele jüdische Freunde gehabt hätte. Mir fiel ein, dass Waldheim am 26. Okt. das erste Mal eine Fernsehansprache als Bundespräsident halten würde und bei dieser Gelegenheit die ganze Wahrheit erklären sollte. Ja, so wie der Weizsäcker? sagte er – Ja, so etwas ähnliches, murmelte ich. Wir haben verschiedene Punkte besprochen, die er erwähnen sollte, u.a. auch, dass viele Österreicher unter den schlimmsten Nazischergen waren.
Unter dem Druck seiner Partei hatte Waldheim dann am 26. Oktober 1986 nur eine belanglose Rede gehalten und Österreichs Bürger aufgefordert, sich an den nächsten Wahlen zu beteiligen. Erst zwei Jahre später, im März 1988, zu „50 Jahre Anschluss“, erlaubte die Große Koalition Präsident Waldheim nur, einen Kranz am Heldentor niederzulegen und eine Fernsehansprache zu halten. Sonst war er ein stummer Zeuge. In dieser Rede hat Waldheim dann doch diese Sätze deutlich gesagt, dass viele Österreicher unter den schlimmsten Nazischergen waren und er sich vor den Opfern und den Familien der Opfer verbeuge. Das war aber eben zwei Jahre zu spät. Die hunderten österreichischen Künstler, Journalisten und Akademiker, die jede Woche mit dem hölzernen Pferd von Alfred Hrdlicka gegen Waldheim demonstrierten, waren sich einig, dass wenn Waldheim diese Sätze rechtzeitig im Oktober 1986 gesagt hätte, die Causa prima vom Tisch gewesen wäre.
Warum reden wir überhaupt über diese Geschichte? Bei Seminaren in Israel hast Du jahrelang Lehrerinnen und Lehrer aus Österreich getroffen und mit ihnen über die aktuelle Politik Israels gesprochen. Welche Rolle spielt die Erziehung gegen das Vergessen?
Wir reden darüber nur aus einem Grund, weil erst infolge der Waldheim Affäre, 41 Jahre nach Kriegsende, Österreich begonnen hat, sich mit seiner Nazi Vergangenheit auseinanderzusetzen. Es gab damals, wie Rudolf Scholten oft sagt, ein neues, ein anderes Österreich, mit vielen jungen Politikern, Künstlern und Journalisten, die im Zuge der Waldheim Affäre bekannt wurden. Mit diesem Österreich konnte ich mich langsam versöhnen.

Die Gefahr ist noch nicht gebannt


Eine enorm wichtige Rolle, und das verbindet uns beide seit sehr vielen Jahren, spielten die Projekte des Unterrichtsministeriums. So habe ich im Laufe der Jahre viele LehrerInnen aus Österreich kennengelernt, die nach Israel gekommen sind, um über die Pädagogik gegen das Vergessen zu lernen. Das ist immer noch wichtig und vielleicht heute noch wichtiger als man je dachte. Man darf nicht vergessen, dass die mit kleinem Abstand drittgrößte Partei, Straches FPÖ mit ihrem rassistischen Gedankengut, den Widerspruch sehr deutlich zeigt. Einerseits ist Strache gegen die EU, andererseits knüpft er jetzt mit den rechtsradikalen Gruppierungen in Europa enge Verbindungen im EU Parlament.
Ich zitiere immer von neuem den früheren SPÖ Bundeskanzler Franz Vranitzky, der 1993 in Yad Vashem, der israelischen Gedenkstätte für den Holocaust, ins Besucherbuch beim Children’s Memorial schrieb: „Die Gefahr ist noch nicht gebannt, wir müssen wachsam sein.“ Als ich vor kurzem Franz Vranitzky in Wien an diesen Spruch erinnere, sagt er, wir müssen darüber ausführlich sprechen, die Lage heute ist viel gefährlicher als Du denkst. Die Tatsache, dass eine so rassistische Partei in diesem Land so stark ist, ist besorgniserregend. Obwohl es in den neuen Bundesländern auch rassistische Erscheinungen gibt, wäre eine Strache Partei in Deutschland undenkbar. Deshalb ist die Erziehung gegen das Vergessen heute noch wichtiger als vor zehn  Jahren.
Antisemitismus in Österreich und Europa heute. „Tachles. Das jüdische Wochenmagazin“, berichtet am 11. Nov. 2013 von einer kürzlich durchgeführten Umfrage der European Union Agency for Fundamental Rights, die Schlimmes zu Tage brachte. 76 % der 5847 interviewten europäischen jüdischen Bürger antworteten positiv auf die Frage, ob der Antisemitismus in den letzten fünf Jahren zugenommen habe. …. Mit Deinem Buch kommst Du im Land herum. Wenn Du auf Österreich schaust, …
… ich muss sagen, dass ich in meinen Begegnungen mit Schülern bis jetzt persönlich keine antisemitischen Äußerungen gehört habe. Im Gegenteil, wo immer ich hingehe, erlebe ich eine enorme Welle von Sympathie. Die Schüler wollen hören, wie es damals war. Ich gehe in Schulen, um mit der Jugend zu sprechen. Man muss ihnen immer wieder die Geschichte lehren, damit sie aus den Erfahrungen der Geschichte lernen. Ich kann mich an eine Ansprache der Ersten Nationalratspräsidentin erinnern. Es war vor einem Jahr, als man in Strasshof in NÖ eine Gedenkstätte für die jüdisch-ungarischen Zwangsarbeiter eröffnete. Barbara Prammer hielt eine Rede und sagte, der Boden in Österreich sei kontaminiert von Spuren ehemaliger Naziverbrechen. Doch leider gibt es noch viele Lücken im Geschichtswissen an vielen Schulen, wo ich öfters erlebe, dass auch in den oberen Klassen 16-, 17-jährige Schüler, die schon das Wahlrecht haben, nicht wissen, wer Adolf Eichmann war.

Israels heutige Politik ist eine große Enttäuschung


Seit 2011 hast Du eine lange Couch, die von Jerusalem bis nach Wien reicht. Wie siehst Du die politische Entwicklung in Deinem Land? Die aktive Friedenspolitik in Israel hat keine Mehrheit, wie noch zu Zeiten von Yitzhak Rabin, der, wie Arafat ihn nannte, „ein mutiger Partner für den Frieden“ war. Außenminister Avigdor Lieberman, vor kurzem mangels Beweisen freigesprochen, vertritt klar rechtsradikale Positionen.
Mit steigender Sorge, denn Lieberman ist wieder da. Auch die Rolle von Netanyahu ist besonders problematisch. Ich sage das ganz offen, denn es gibt seit zwei Jahren eine neue Hürde bei diesen Verhandlungen, die jetzt irgendwie weiterlaufen, obwohl Israel immer neue Siedlungen baut. Auch Netanyahu wurde neulich überrascht, dass sein Wohnbauminister die Planung von 20.000 neuen Wohnungen in den besetzten Gebieten angekündigt hat. Er hat das eingestellt. Kürzlich sprach Netanyahu wieder an der Bar-Ilan Universität, wo er vor zwei Jahren nach langem Zögern erklärte, eine Zwei-Staaten-Lösung anzuerkennen. Die neue Hürde ist die Forderung, dass die Palästinenser mit Mahmud Abbas Israel als einen jüdischen Staat anerkennen müssen. Das ist absurd, denn 20 % der israelischen Staatsbürger sind Palästinenser. Auch als der rechtsnationale Ministerpräsident Menachmen Begin 1979 Frieden mit Ägyptens Präsident Sadat geschlossen hat, war das ein Frieden zwischen dem Staat Israel und der arabischen Republik Ägypten. Dasselbe galt, als der leider von einem fanatischen israelischen Rechtsstudenten ermordete Yitzhak Rabin 1994 mit König Hussein von Jordanien einen Friedensvertrag unterzeichnete.
Mit dieser neuen Hürde zeigt Netanyahu, dass Israel für wahrhaftige Friedensverhandlungen nicht bereit ist. Ich bin sehr kritisch, was die weitere Entwicklung betrifft. Man darf nicht vergessen, dass Israel mit 1967 – und das sind jetzt schon 46 Jahre seit dem Sechstage-Krieg - eine Besatzungsmacht geworden ist. Wenn wir da nicht bald den Ausgleich finden werden, wird es sich rächen, denn die muslimische Welt wird immer radikaler.

Die letzten Zeugen


Zum Gedenken an die Novemberpogrome 1938 hat der Direktor des Wiener Burgtheaters, Matthias Hartmann, mit Doron Rabinovici ein wichtiges Projekt geschaffen, „Die letzten Zeugen - 75 Jahre nach dem Novemberpogrom 1938“,
mit den Zeitzeugen Lucia Heilman, Vilma Neuwirth, Suzanne Rabinovici, Marko Feingold, Rudolf Gelbard und Dir. Du bist einer der sechs Zeugen auf der Bühne des Burgtheaters.
Vor einem Jahr hat mich Rudolf Scholten das erste Mal mit Matthias Hartmann zusammen gebracht. Er hatte diese Idee, sechs Überlebende, drei Männer und drei Frauen, deren Texte von Schauspielern gelesen werden, auf die Bühne zu bringen. In einem weiteren Schritt hat Doron Rabinovici Texte aus den Schriften dieser Zeugen zusammengestellt. Im ersten Teil werden viele Stellen aus meinem Buch zitiert. Einer von den drei Männern ist der über 100-jährige Marko Feingold, vollkommen rüstig, geistig und körperlich.
Ich bin unter allen diesen sechs Personen eine Ausnahme, weil ich rechtzeitig Nazi-Österreich verlassen konnte. Glaube mir, das ist keine leichte Sache. Jeder Mensch hat seinen eigenen Holocaust Komplex. Deswegen sind diese Burgtheater Gespräche für mich ein besonders wichtiges Erlebnis. Vor 75 Jahren hätte ich mir in meinen wildesten Träumen nicht vorstellen können, dass ich jetzt auf der Bühne des Burgtheaters als aktiver Teilnehmer sitzen werde. Vier Schauspieler lesen zwei Stunden Texte von uns. Am Ende sagt jeder von uns einige Sätze. Schoschanna Rabinovici, die Mutter von Doron, liest ein jiddisches Gedicht, das vom Tod des Vaters handelt, Rudolf Gelbard zitiert Simon Wiesenthal und betont die Wichtigkeit, die neuen Generation immer wieder an die Nazi-Zeit zu erinnern.
Es gibt da noch einen siebenten, leeren Sessel mit einem bunten Tuch. Der ist für die Roma Ceija Stoika, die im Jänner gestorben ist. Als letzter Sprecher bist Du an der Reihe. Was sagst Du?
Schon damals war ich mir der Tatsache bewusst, dass es bei den Österreichern nicht viel Reue über ihre aktive Teilnahme an den Naziverbrechen gab. Obwohl zwei Drittel der österreichischen Juden noch rechtzeitig fliehen konnten und den Holocaust überlebt haben, war der Anteil der Juden, die nach Österreich zurückkommen konnten, nur minimal. Es dauerte noch über vierzig Jahre, bis als Folge der Waldheimaffäre Österreich begonnen hat, sich mit seiner Nazivergangenheit auseinanderzusetzen. Die Verbrechen, die während der Nazizeit begangen wurden, waren grausam und unmenschlich. Doch eines kann ich bis heute nicht begreifen, dass man bis zum letzten Ende Juden ermordet hat, obwohl schon alles verloren war.

 

"Ari heißt Löwe" - Lesung, Vortrag und Diskussion
So, 8.12. Kulturforum beim Schulzentrum, Lingenau, 10.30 Uhr
Mo, 9.12. Reichshofsaal, Lustenau, 20 Uhr
Mi, 11.12. Jüdisches Museum, Hohenems, 19.30 Uhr

Ari Rath: Ari heißt Löwe. Erinnerungen. Zsolnay Verlag, 2012, 344 Seiten, ISBN 978-3-552-05585-8