Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Bettina Barnay · 16. Nov 2021 · Literatur

Alex Beer: „Der letzte Tod“

August Emmerich ermittelt wieder. Wenn Sie ihn noch nicht kennen: der Inspektor und sein Assistent Winter klären in Wien Mordfälle auf. Sie gehören der Abteilung „Leib und Leben“ an, so hieß das damals. Und damals bedeutet in den Jahren nach dem Ende des ersten Weltkriegs. Viele sind gar nicht aus dem Krieg heimgekehrt, viele schwerverletzt, so auch August Emmerich. Man muss die ersten vier Bände dieser Krimireihe nicht gelesen haben, um den fünften nicht mehr aus der Hand legen zu wollen.

Eine Leiche wird gefunden, eingepfercht in einen alten Tresor. Das Opfer wurde lebendig eingesperrt, ergibt die Obduktion. Wer macht so etwas? Und warum? Emmerich wird ein Psychologe zur Seite gestellt, das ist ein Novum und wird vom Kommissar eher als Belästigung empfunden, zumal er vermutet, dass der – Dr. Adler heißt er – nicht nur dabei helfen soll, die Ermittlungen voranzutreiben, sondern auch ein psychologisches Profil des umstrittenen Inspektor Emmerich zu erstellen.
Der, also August Emmerich, ist wirklich kein einfacher Mensch. Er hat es aber auch nicht leicht: sein Bein schmerzt, er ist für die drei Kinder seiner verstorbenen Geliebten verantwortlich und das Geld wird immer weniger wert. Eine Zigarette (und von denen braucht Emmerich viele pro Tag) kostet einhundertzwanzig Kronen, ein Ei ist im Jahr 1922 so viel wert wie ein Auto - vor dem Krieg. Emmerich schert sich einen Dreck um Diplomatie, und nimmt die sogenannte gute Gesellschaft ebenso dran, wie die Strizzis, nur dass er letzteren wesentlich mehr Sympathie entgegenbringt. Seine Vorgesetzten werden nahezu täglich mit Beschwerden konfrontiert, seine innerbetrieblichen Konkurrenten warten darauf, dass er endlich aus dem Dienst entlassen wird. Blöd nur, dass Emmerich und Winter die höchste Aufklärungsrate haben. Ferdinand Winter ist seinem Vorgesetzten absolut treu, wiewohl er sich auch manchmal wünschen würde, dass sein Chef ein bisschen mehr auf sein Äußeres achten und sich vielleicht nicht gerade mit jedem einflussreichen Menschen der Stadt kompromisslos anlegen würde.
Eine Parallelgeschichte tut sich im Buch auf: kursiv geschrieben. Die Geschichte des Buben Joseph, der von seinem Onkel immer wieder in ein eisernes Korsett gesteckt wird, der besseren Haltung wegen. Man ahnt Böses und wird im Lauf des Buches bestätigt. Joseph ist der Mörder. Bloß, wer ist Joseph und wie kann man ihn finden?

Alex Beer ist Daniela Larcher

Eine der großen Stärken der Autorin Alex Beer ist die akribische Recherche. Alex Beer, das ist schon lange kein Geheimnis mehr, heißt in Wirklichkeit Daniela Larcher. Sie hat sich das Pseudonym für ihre Kriminalromane erdacht und wohl nicht geahnt, welchen Erfolg sie mit ihren Emmerich-Büchern haben würde. Zwei Mal wurde sie mit dem Leo-Perutz Preis ausgezeichnet, 2019 dann auch mit dem Österreichischen Krimipreis. Daniela Larcher hat Archäologie studiert, heute sucht sie aber nicht nach Artefakten, sondern recherchiert in der Österreichischen Nationalbibliothek minutiös das Leben im Wien der Zwischenkriegszeit. Die Wohnungsnot war groß, obwohl selbst Kellerlöcher vermietet wurden, die meisten Menschen konnten von fließendem Wasser, Elektrizität oder einer eigenen Toilette nur träumen.  Hunger- und Teuerungsunruhen, bei denen in der Ring- und Kärntnerstraße Steine in Schaufenster flogen, werden thematisiert. Die beispiellose Armut wird in Alex Beers August-Emmerich-Reihe greifbar, die Verzweiflung der Armen verständlich, Beers Dialoge sind von packender Authentizität.

Zeugenaussage durch Hypnose

Zurück zur Geschichte: Das erste Opfer wird identifiziert, aber das bringt die Ermittlungen nicht wirklich weiter. Dr. Adler versetzt eine Zeugin in Hypnose, dadurch erringt er sich Emmerichs Respekt und einen echten Erfolg. Die Spur führt allerdings in höchste Wiener Kreise. Das ist nun keineswegs Emmerichs Spezialgebiet, mit dem Katzenbuckeln vor Obrigkeiten hat er´s nicht so. Und wir Leser:innen können es ihm nicht verübeln. So arm der größte Teil der Wiener Bevölkerung in den Zwanzigerjahren war, so rauschhaft pompös lebten die Reichen.
Jetzt wäre es halt gut, wenn man der hochgestellten Persönlichkeit den Mord nachweisen könnte. Geht aber nicht, also wird ein anderer Weg gesucht: Emmerich vermutet, in mittlerweile schon fast freiwilligem Konsens mit dem Psychologen Dr. Adler, dass ein Serientäter am Werk ist. Adler sucht in alten Akten nach Übereinstimmungen mit dem aktuellen Fall und wird fündig und Emmerich fährt nach Budapest. Nicht etwa wegen der aktuellen Ermittlungen, sondern wegen seines Todfeindes Xaver Koch. Der ist verantwortlich für den Tod von Luise, Emmerichs großer Liebe, und hat Rache dafür geschworen, dass ihn der Inspektor hinter Gitter gebracht hat. Da hätte er eigentlich lebenslänglich bleiben sollen, tut er aber nicht. Es gelingt ihm die Flucht und ein Anschlag auf August Emmerich, allerdings kein tödlicher. Koch weiß, dass ihm nun die gesamte Wiener Polizei auf den Fersen ist, also setzt er sich nach Budapest ab. Emmerich ihm hinterher.
Eher aus Zufall erzählt er einem Budapester Kollegen von seiner Leiche in Wien, der erkennt Parallelen zu einem immer noch ungelösten Mordfall, und die Suche nach Opfern, die in Kisten, Truhen oder Ähnlichem aufgefunden worden sind, wird über die Grenzen des Landes ausgeweitet. Die Kollegen werden fündig: der Mörder hat eine Spur der Brutalität der Donau entlang gezogen.
Polizeipräsident Schober hält es für eine kluge Idee, eine Gesellschaft einflussreicher Männer über die Suche nach dem Serienmörder in Kenntnis zu setzen und sie um Mithilfe zu bitten, weil die doch vielleicht imstande wären, eine internationale Polizeivereinigung zusammenzustellen. Die Idee hat einen Haken: Joseph befindet sich unter diesen Herren.
Das Finale ist rasant und beschreibt das Geschehen sowohl aus der Sicht des Mörders als auch aus der Warte der Ermittler. Von diesem Moment an legt man das Buch gar nicht mehr aus der Hand, und davor auch nur, wenn das Leben einen dazu gezwungen hat.

Alex Beer: Der letzte Tod. Limes Verlag, 2021, 384 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-8090-2749-23, € 20,60