Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Michael Löbl · 07. Apr 2023 · Musik

J.S. Bachs „Johannespassion“ in Vaduz

Zwei große geistliche Werke wurden nur wenige Kilometer voneinander entfernt am Mittwoch der Karwoche aufgeführt. Während in Lustenau das Mozart-Requiem in der ganz speziellen Konzertdramaturgie von Manfred Honeck zu erleben war, fand in Vaduz ein längst nicht so spektakuläres, von der musikalischen Qualität aber ähnlich eindrückliches Konzert statt: Johann Sebastian Bachs „Johannespassion“ in einer Aufführung der J.S. Bach-Stiftung St. Gallen unter der Leitung von Rudolf Lutz.

Die J.S. Bach-Stiftung, hierzulande weitgehend unbekannt, hat sich ein unglaubliches Projekt vorgenommen und dieses bereits zum größten Teil erfüllt: die Aufführung und Dokumentation sämtlicher Vokalwerke von Johann Sebastian Bach in einem Zeitraum von 20 Jahren. Seit 2006 wird jeden Monat eine der mehr als 200 Kantaten in einem speziell dafür entwickelten Ablauf aufgeführt, dazu kommen noch weitere Vokalwerke, Messen, Oratorien und die beiden Passionen. Aufführungsorte sind in erster Linie Kirchenräume im Raum St. Gallen, jede Aufführung wird in Ton und Bild dokumentiert. Die Konzerte haben einen ganz speziellen Ablauf, in musikalisch-theologischen Werkeinführungen werden die Kantaten auf eine muntere Art und Weise in die Einzelteile zerlegt, um ein besseres Verständnis von Musik und Text zu erhalten. Mit diesem Wissen können die Konzertbesucher die Handschrift von Bach in der Musik besser erkennen. Nach der jeweiligen Werkeinführung gelangt die Kantate ein erstes Mal zur Aufführung. In der nachfolgenden Reflexion werden weitere Aspekte der Kantate durch eine Persönlichkeit aus Kultur, Wirtschaft, Politik und anderen Bereichen aufgegriffen und vertieft. Die Konzertbesucher:innen kommen dann in den Genuss einer zweiten Aufführung der Kantate, die sie meist komplett anders wahrnehmen als den ersten Durchgang. Speis und Trank sind im Kartenpreis inbegriffen. Eine zentrale Aufgabe sieht die Stiftung in der Verbreitung von Bachs Vokalwerk, auch in sozialen Netzwerken wie Facebook und YouTube. Dank diesen Online-Plattformen ist es ihr gelungen, eine mehrere Hunderttausend Personen umfassende Fangemeinde aufzubauen, die sich über die ganze Welt erstreckt. Dieses Mammutprojekt steht seit seiner Gründung unter der musikalischen Leitung von Rudolf Lutz und soll 2027 abgeschlossen werden. Initiator dieses Projektes und Stiftungsratspräsident ist der Schweizer Unternehmer, Bankier, Politiker und Publizist Konrad Hummler.

Gastspiele in Wien und Leipzig

Das Orchester besteht aus Berufsmusiker:innen, die in der historischen Aufführungspraxis zu Hause sind, der Chor wird von einer flexiblen Besetzung mit bis zu vierzig Personen gebildet. Chor und Orchester haben sich mittlerweile zu einem auch international gefragten Ensemble entwickelt, das immer öfter zu Gastspielen eingeladen wird, in diesem Jahr ins Wiener Konzerthaus und in die Nikolaikirche Leipzig, wo J.S. Bach selbst die erste Aufführung der „Johannespassion“ leitete. Das Werk stand schon mehrmals auf dem Programm, vor einem Jahr auch im Rahmen des Bachfestes Leipzig in der Thomaskirche. Auch in diesem Jahr gibt es eine Aufführungsserie, nach dem Konzert in Vaduz gibt es weitere Konzerte in der Tonhalle St. Gallen und der Tonhalle Zürich.
Der in St. Gallen geborene Rudolf Lutz hat nicht nur in der Schweiz, sondern auch an der Wiener Musikakademie Orgel, Klavier, Dirigieren und Komposition studiert. 40 Jahre lang, von 1973 bis 2013, war er Organist der evangelischen Pfarrkirche St. Laurenzen im Zentrum von St. Gallen. Seit deren Gründung ist er Musikalischer Leiter der Bach-Stiftung und leitet selbst alle Aufführungen. Daneben unterrichtete er an der Schola Cantorum Basiliensis und an der Musikhochschule Basel. Mit seinem Bruder tritt er auch in einer Jazz-Formation auf. Zur Einstimmung auf das Konzert im Rahmen der Serie „Weltklassik“ des TAK Theater Liechtenstein gab es ein Gespräch mit dem Konzertdramaturgen Martin Wettstein. Hier  konnte man Rudolf Lutz als äußerst  humorvollen und eloquenten Bach-Experten kennenlernen, der zum Beispiel auf die Besonderheiten der Instrumentation, die Unterschiede der „Johannespassion“ zur „Matthäuspassion“ hinwies und auch auf Geschichte und Hintergründe der J.S. Bach-Stiftung zu sprechen kam. Die in Leipzig am Karfreitag des Jahres 1724 erstmals aufgeführte „Johannespassion“ erzählt die Geschichte Jesu von der Gefangennahme durch die Hohepriester bis zu seinem Begräbnis nach dem Evangelium des Johannes. Die großen Unterschiede der beiden Evangelisten Matthäus und Johannes prägen auch die Gegensätze der beiden Vertonungen durch J.S. Bach. 2024 wird es – 300 Jahre nach der Uraufführung – weltweit vermutlich zahlreiche Aufführungen dieses ergreifenden und dramaturgisch effektvollen Werkes geben.

Ein Konzert auf Weltklasseniveau

Die Aufführung im Vaduzer Saal ließ keine Wünsche offen. Schlank im Klang, sehr durchsichtig und extrem textverständlich, mit durchaus schroffen aber nie plakativ eingesetzten Akzenten bildeten Orchester, Chor und Solist:innen eine musikalische Einheit. Rudolf Lutz kann sich auf seine Mannschaft verlassen. Das erlaubt ihm den Wechsel vom reinen Taktschlagen zu einer suggestiven und musikalisch sehr plastischen Gestik. Das Orchester, zusammengestellt aus Spitzenmusiker:innen der Alten-Musik-Szene, glänzte durch seinen homogenen Klang aber vor allem durch grossartige solistische Leistungen der Oboisten, der beiden Damen an der Viola d'amore, Kontrafagott, Gambe, Violoncello und der Traversflöte. Beeindruckend war auch die Leistung des Chores, der durch klangliche Ausgewogenheit, Textverständlichkeit und große dynamische Bandbreite überzeugte. Die Solist:innen Julia Doyle (Sopran), Margot Oitzinger (Alt) und Peter Harvey (Bass) fügten sich mit schlanken Stimmen und intelligent eingesetztem Vibrato in den Gesamtklang von Chor und Orchester ein. Durch die herausragende Gestaltung ihrer Partien bleiben der Tenor Georg Poplutz mit dem umfangreichen und musikalisch wie technisch schwierigen Part des Evangelisten und der österreichische Bassbariton Matthias Helm als Pontius Pilatus in Erinnerung.

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