Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Peter Niedermair · 27. Apr 2017 · Gesellschaft

Tage der Utopie, Arbogast, 2. Tag: Bye bye Migrationshintergrund. Von der Willkommenskultur zur Integrationskultur. - Jagoda Marinić im Gespräch mit der Ö1 Redakteurin Renata Schmidtkunz

Die Schriftstellerin und Integrationsexpertin Jagoda Marinić wurde als Tochter kroatischer Migranten in Waiblingen in der Region Stuttgart geboren. Ihre Eltern stammen aus Dalmatien. Marinić hat ein Studium der Germanistik, Politikwissenschaften und Anglistik an der Universität Heidelberg absolviert. Sie erhielt 1999 ein Hermann-Lenz-Stipendium und 2003 den Förderpreis der Kunststiftung Baden-Württemberg. Ihr erstes Buch mit Erzählungen, „Eigentlich ein Heiratsantrag“, veröffentlichte Marinić im Jahr 2001, für ihren 2005 erschienenen Erzählband „Russische Bücher“ wurde sie mit dem Grimmelshausen-Förderpreis ausgezeichnet. 2006 erschien ihr Romandebüt „Die Namenlose“. Sie ist seit 2012 Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. Im Juni 2007 trat Marinić unter 18 Teilnehmern beim 31. Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt an, sie las ihren Text „Netzhaut“. Die Inszenierung des Theaterstücks „Zalina“, zu dem Marinić den Text schrieb, wurde im August 2007 mit dem Exzellenzpreis für das „Beste Programm des Kulturhauptstadtjahres Hermannstadt 2007“ ausgezeichnet. Marinić lebt in Heidelberg. Neben Essays und Erzählungen verfasst sie Theaterkritiken und schreibt für die Frankfurter Rundschau und die TAZ.

Seit 2012 leitet sie das „Interkulturelle Zentrum“ in Heidelberg, ein Welcome-Center für Neu-Heidelberger mit integrierter Ausländerbehörde, aber auch mit einem speziellen Kulturprogramm – das Jagoda Marinić leitet. 2016 erschien der Roman „Made in Germany - Was ist deutsch in Deutschland“, in dem sie sich mit der Identität Deutschlands als Einwanderungsland auseinandersetzt. Bei den Tagen der Utopie setzt die Referentin die inhaltlich-konzeptive Programmschiene fort, die am Vorabend Jos de Blok aus den Niederlanden eröffnet hatte. Wie diesem geht es auch in der Wahrnehmung und Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und thematischen Gegebenheiten bei Jagoda  Marinić nicht um den Alarmismus um das Migrationsthemas, sondern um die Fokussierung auf gelingende Lösungen, solche, die mitunter viel Geduld erfordern aber auch geschärftes Nachdenken und Formulieren, um das Überwinden einer im Jammernden verharrenden Position. Beiden gemeinsam ist die Sensibilität der Sprache gegenüber. Language creates the spirit. Man kann es ruhig nochmals wiederholen.

Die Musik des Abends: Peter Herbert und Carol Robinson

Beide sind bereits an den Tagen der Utopie in Arbogast aufgetreten. Carol Robinson ist eine französisch-amerikanische Komponistin und Klarinettistin. Sie lebt in Paris und interpretiert als Solistin sowohl klassische, zeitgenössische als auch experimentelle Musik in Konzertsälen und an Festivals auf der ganzen Welt. Peter Herbert, Kontrabass, war der erste Musiker bei den ersten Tagen der Utopie 2003; der Vorarlberger Komponist lebt als fahrender Minnesänger-Musiker an vielen verschiedenen Plätzen, an denen er sich mit like-und-spirit-minded MusikerInnen zu Aufführungen trifft. Er ist mittlerweile in die internationale Szene so hineinverwachsen, dass die Musiker und ihre persönlichen und musikalischen Beziehungen ein Fundamentum geschaffen haben, auf dessen Hintergrund jedes Mal etwas ganz Besonderes zu hören ist, wie am Mittwochabend in der Kapelle von Arbogast. Darüber werden wir noch berichten. Ich bin ihm damals 1991 als Obmann des Dornbirner Spielboden begegnet, wo er die zentrale Rolle in der Komposition wie in der Regie zu „KunstLos glücklich“ spielte, eine Musik-Tanz-Bild Performance, die im Dornbirner Kulturhaus aufgeführt wurde. Die künstlerische Leitung dieser Multimedia-Produktion teilte er sich mit dem damals noch recht unbekannten Schriftsteller Wolfgang Mörth, das Bühnenbild dazu entwickelte Edgar Leissing. Ihre Ouverture des Abends wird zu einem Spiel mit verschiedenen Schichten von Erinnerung und Erkenntnis. Er am Kontrabass, sie auf einer litauischen Flöte. Ihre Musik erzählt meinen Ohren von der langsamen Reise der Sonne über einen Spätnachmittag, wenn dann in der einbrechenden Dämmerung die Kinder noch nach den Kaulquappen im Teich draußen im Garten schauen und später ins Haus kommen und ihre Geschichten vom Fuchs und den sechs Gänsen erzählen, die drüben auf der Wiese am Waldrand …

Das Gespräch – die Töne nach den Tönen

„Woher kommen die Töne, lässt sich das wissen? Gab es sie schon im 14. Jahrhundert?“ Mit diesen Gedanken beginnt Renata Schmidtkunz das Gespräch mit Jagoda Marinić. Die Ö1 Redakteurin, ursprünglich aus Deutschland, Protestantin und Weltenbürgerin spricht einen grundlegend bedeutenden Gedanken aus, der sich wie das Innuendo zum Thema des Abends ausnimmt. Im Grunde genommen geht um das Fremdsein. Eine existenzielle Kategorie, die allen gemeinsam ist, weil wir Menschen sind. Der in Krakau 1930 geborene und 2013 in Nizza verstorbene Autor Slawomir Mrożek schrieb im Stück „Emigranten, 1974: „- Es bleibt dir der Bahnhof. - Der Hauptbahnhof. - ... Da hast du nur Vorteile. Erstens ist der Eintritt frei. Zweitens bis du da kein Fremder. Es gibt keine Fremden dort, weil der Bahnhof eben für Fremde da ist, und darum sind dort alle Einheimische, und die Fremden sind sogar einheimischer als die Einheimischen. (...) Und außerdem ist es auf dem Bahnhof hell und warm... Es gibt Kioske mit Zeitungen, Telefonzellen, Fahrkartenschalter.“

In diesem Fremdsein geht es um die Widersprüche und wie wir mit ihnen umgehen, und was wir tun, wenn unsere Hoffnungen nicht so aufgehen, wie wir das gerne möchten. Ich will nicht verschieden gemacht werden, sie sollen mich weiterhin als Fremden sehen. Ich will in einer inklusiven Gesellschaft leben, weniger als in einer integrierenden. Lieber spiele ich mit der Vielfalt, ich integriere nicht, weil ich als aktiver und sich selbst bevollmächtigender Akteur der Integration auftreten will und nicht jemanden integrieren möchte, der oder die auf meine Gunst angewiesen wäre. 2010 ca taucht sprachlich-terminologisch der Begriff der Diversität auf, ursprünglich aus dem Newspeak der Ökonomie; Deutschland eine Gesellschaft aus 80 Millionen Menschen bestehend, in der mit je nachdem, wie weit wir in die Geschichte zurückgehen, nahezu alle eine Migrationsgeschichte in ihren Familienbiographien haben. In den letzten Jahren hat sich politisch-historisch eine neue Situation ergeben. Es begann u.a. damit, dass wir in Europa Bilder von Menschen erlebten, die in einer Krise, einer lebensbedrohenden Situation auf der Flucht nach Europa kamen. Die 16 Millionen mit eigentlichem Migrationshintergrund der letzten Jahrzehnte bildeten nach wie vor die große Gruppe. Durch die Flüchtlingsthematik hat sich jetzt nach dem Sommer der Willkommenskultur eine ganze Reihe von Fragen neu gestellt, aktuell mit Blick auf das Ergebnis des Referendums in der Türkei. Und darüber hinaus: Es geht um die Frage, wie wir uns über die Wohltätigkeit hinaus aufstellen und es schaffen könnten, den Flüchtlingen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen.

Von der Wohltätigkeitsgeste zur Begegnung auf Augenhöhe

Am 23.3.2017 in der TAZ schreibt Jagoda Marinić: „Nur eins hat Deutschland wirklich versäumt: die hier lebenden Türken und Deutschen mit Doppelpass oder sonstige Eingewanderte politisch anzusprechen. Viele zitieren gerne Max Frisch: ‚Wir riefen Arbeitskräfte, doch es kamen Menschen.‘ Mir fehlt bei diesem Zitat die Dimension ‚Bürger‘. In einem Staat ist die Einheit, die zählt, der Staatsbürger. Zu Menschen kann ich freundlich sein oder human, doch ein Bürger, der hat Rechte.“ Taz 23.3.2017 - Es sei Zeit, mit den Einwanderern über Demokratie zu reden, über Pressefreiheit, über den Wert einer vitalen Zivilgesellschaft. Es sei Zeit, dass Politiker mit Einwanderern und deren Nachfahren über Bürgerrechte reden, dass sie sich hinstellen und sagen: ‚Du bist gemeint. Dann werden auch Eingewanderte sagen können: Mein Politiker. Meine Politikerin. Meine Werte. Mein Land.‘

Das Interkulturelle Zentrum in Heidelberg

Im April 2012 in einer alten Tabakfabrik von der Stadt Heidelberg gegründet und mitgegründet ist ein Platz, an dem man sich wohlfühlt. Viele Menschen, die letztlich daran glaubten, dass Utopien machbar seien, haben über 20 Jahre lang darum gerungen, dass ein Dezernat gegründet wurde, just zu dem Zeitpunkt, als die Utopie am stärksten war. Das, was lange Zeit unter dem Mantel der Duldungspolitik sich dahindümpelte, wurde mit der Einrichtung der Ausländerbehörde, ein Bürgeramt, das im selben Gebäude im ersten Stock untergebracht ist, eine Willkommenskultur möglich. Damit entstand fast so etwas wie eine poetische Situation, durch den Namenswechsel hatte man der Wartesituation einen Raum geschaffen, ein Café im Untergeschoss, wo am Abend Lesungen und Konzerte stattfinden, und sich das soziale Epizentrum der über 80 NGO’s befindet. Damit war die „Allianz der Vielfalt“ gegründet. Wichtig war besonders auch die Frage der Trägerschaft, die Einrichtung eines Ausländerrates, das Miteinbeziehen des Bürgermeisters, womit man ein gutes Stück wegkam von der Helfen-Kultur – Migranten wollen nicht dauernd geholfen werden. So seltsam das für manche aufs erste Hinhören klingen mag, es ist leichter, jemanden zu haben, dem man helfen kann, als jemand, der einem ein Gegenüber ist. Man ist dort in Heidelberg überzeugt, dass eine vielfältige Gesellschaft etwas miteinander machen kann, mehr und eben nicht nur über den anderen reden. Die Menschen mit all ihren diversen Herkünften und Lebensvorstellungen – ich kann das Wort „Migrationshintergrund“ nicht mehr verwenden, es ist für mich zu einer politischen unehrlichen Fratze geworden, Argumente für politisch-konstruktives Handeln zu verhindern und behindern – sollen sich auf einer transkulturellen Ebene, einer Plattform begegnen können, an einem Ort, an dem die Menschen spüren, es ist das Ihre. Diese Häuser der Begegnung muss man verteidigen gegen die Kommerzialisierung, mit einer „Kultur für alle“, wie das Hilmar Hoffmann in den 1960er Jahren bereits für Frankfurt aus dem Sprachrohr des Kulturamtes heraus formuliert hatte. Man muss an diesen Orten auf eine humanitäre Bildung vertrauen, das Thema aus der Nische herausholen, es herauskämpfen, Räume entgegensetzen. Es braucht, wie in jeder Gesellschaft überhaupt, Räume des Dialogs.

Im Musikteil von Carol Robinson und Peter Herbert singt die Solistin einen Song, der die BesucherInnen des Abends „above the mountain“ trägt, hinaus ins Freie, wo es leise zu regnen begonnen hatte.

www.tagederutopie.org – hier finden Sie alle weiteren Informationen zu den Vorträgen und Workshops dieser Woche.