Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Peter Füssl · 25. Apr 2024 · CD-Tipp

Fred Hersch: „Silent, Listening“

ECM-Mastermind Manfred Eicher zählt sicherlich auch wegen der vielen, teils epochalen Solo-Piano-Alben zu den herausragenden Produzenten der Jazz-Geschichte – von Keith Jarrett, Chick Corea und Paul Bley bis Jon Balke, Stefano Bollani, Marilyn Crispell, Richard Beirach, Craig Taborn, Stefano Battaglia, Benjamin Moussay, Dominik Wania oder Nitai Hershkovits. Viele dieser Alben gehören zu den Meilensteinen des Genres, und so erregt es natürlich von vornherein großes Aufsehen, wenn noch dazu ein ausgewiesener Solo-Piano-Spezialist wie Fred Hersch auf dem renommierten Münchner Label eine einschlägige Produktion vorlegt. Völlig zurecht, denn „Silent, Listening“ rückt die Tastenkunst des gleichermaßen erfahrenen und in der Jazzgeschichte bewanderten, wie virtuosen und spielfreudigen 68-jährigen US-Amerikaners ins perfekte Schweinwerferlicht – und das heißt etwas, denn der hat mehr als ein Dutzend ausgezeichneter Solo-Alben im reichhaltigen Portfolio.

Hersch feierte sein ECM-Debüt erst vor zwei Jahren im Duo mit dem italienischen Trompeter Enrico Rava und ihrem exzellenten Album „The Song Is You“, das 2021 im Auditorio Stelio Molo RSI, Lugano aufgenommen und von Eicher produziert worden war. Hersch war vom Flügel, von der Atmosphäre und von den akustischen Verhältnissen dermaßen beeindruckt, dass er die sieben Eigen- und die vier Fremdkompositionen des aktuellen Albums unter identischen Bedingungen einspielen wollte, und auch Manfred Eicher stellte gerne wieder sein untrügliches Gespür für feinste Nuancen, sein Wissen und seinen reichhaltigen Erfahrungsschatz zur Verfügung. Der Reigen wird mit einer meisterhaft auf das Wesentliche reduzierten, verträumten Interpretation des Strayhorn/Ellington-Standards „Star-Crossed Lovers“ aus den 1950-er-Jahren eröffnet. Darauf folgen sechs Hersch-Nummern, zwischen drei und fünf Minuten lange Improvisationen, denen eigene Melodien oder fragmentarische Ideen zugrunde liegen und deren Titel er gewohnheitsmäßig aus einer Monographie des Objektkünstlers und Pop-Artisten Robert Rauschenberg entlehnte. „Night Tide Light“ ist ein gespensterhaft düsteres, unter die Haut gehendes, impressionistisches Stimmungsbild, und „Akrasia“ widmet sich nachdenklichen Erinnerungen an die Lockdown-Zeiten. Auch das Titelstück „Silent, Listening“ ist eine emotional aufwühlende Tastenexkursion, wohingegen „Little Song“ vergleichsweise eine etwas leichtfüßigere Atmosphäre verbreitet. „The Wind“ ist das bekannteste Stück des Bebop- und Cool Jazz-Pianisten Russ Freeman, wurde in den 1950-ern unter anderem von Chet Baker und Stan Getz aufgenommen, fand 1988 den Weg auf Keith Jarretts Album „Paris Concert“ und wurde 1991 von Mariah Carey mit eigenem Text in einem ganz anderen Genre wiederbelebt. Fred Hersch interpretierte und umspielte die bekannte Melodie auf Anhieb dermaßen intensiv und gefühlvoll, dass bereits der erste Take ­– seiner magischen Qualitäten wegen – auch der letzte war und nun in Rillen gepresst wurde. Der 1928 geschriebene Operetten-Song „Softly, as in a Morning Sunrise“ von Romberg/Hammerstein II wurde von unzähligen Künstler:innen stilistisch höchst unterschiedlich interpretiert, auch auf Fred Herschs Duo-Album mit Bill Frisell „Songs We Know“ (1998) war er zu hören. Im vorliegenden Fall lässt ihn der fingerfertige und gewitzte Tastenartist auf spannende Weise in eine Art abstrakten Swing mutieren. Auch „The Winter of My Discontent“ von Alec Wilde wurde von Hersch bereits vor 40 Jahren gemeinsam mit der Saxophonistin Jane Ira Bloom auf dem Duo-Album „As One“ veröffentlicht und dient nun als stimmungsvoll entspannter Closer eines außergewöhnlichen Albums, das große Konzentration beim Hören mit einem exzeptionellen Hörvergnügen belohnt.

(ECM/Universal)

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Mai 2024 erschienen. 

Konzert-Tipp: 23.5. Haus der Musik, Innsbruck