Fluchtgeschichte, Familiengeschichte, Kolonialgeschichte
Premiere des Stückes „Fremde Seelen“ von Eva-Maria Bertschy am Vorarlberger Landestheater
Group 50/50 ist der Name eines Künstler:innenkollektivs, bei dem mindestens die Hälfte der Akteur:innen aus Afrika stammt. Mitbegründerin ist die Schweizer Dramaturgin Eva-Maria Bertschy, deren Produktion „Fremde Seelen“ von einem interkulturellen Ensemble und Mitgliedern des eigentlich schon pensionierten Spielbodenchores am Vorarlberger Landestheater uraufgeführt wurde.
Eva-Maria Bertschy hat zehn Jahre mit Milo Rau gearbeitet und in dieser Zeit mit dem Schweizer Starregisseur eine eigene Theatersprache entwickelt. Nachdem sie lange Zeit im Ausland verbrachte, zuletzt auf Sizilien und im Kongo, kehrte sie in ihre Heimat Schweiz mit dem Wunsch zurück, sich mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen. Für die Entwicklung ihres Theaterstücks „Fremde Seelen" begab sich Eva-Maria Bertschy in jenes Dorf in den Freiburger Voralpen, wo ihre Mutter aufgewachsen war. Von ihr hatte sie als Kind die wahre Geschichte eines vietnamesischen Priesters gehört, der vier Jahre lang im Dorf als Seelsorger wirkte, bevor er sich 2004 das Leben nahm. So wird es jedenfalls vermutet. Diese Geschichte hat die Schweizerin nie losgelassen.
Verschiedene Perspektiven auf Fremdsein und Fremdfühlen
Das Stück „Fremde Seelen" ist semidokumentarisch. Eva-Maria Bertschy hat aus zahlreichen Dorfgesprächen vier Figuren destilliert. Vieles habe sich in etwa so ereignet. Einige Figuren, Details und Begegnungen seien aber erfunden, und die Namen wurden alle geändert. „Fremde Seelen" ist auch ein Stück über Rassismus; in erster Linie aber über die Erfahrung des Fremdseins und Fremdfühlens, die wir alle kennen, sagt die Autorin, die zugleich auch die traumatische Fluchtgeschichte des vietnamesischen Priesters erzählt, der als Christ im Zuge der Machtübernahme der Kommunisten fliehen musste, weil katholische Vietnamesen als Verbündete der Kolonialherren angesehen wurden.
Eine Schauspielerin, ein Musiker, ein Chor
Kojack Kossakamvwe ist ein aus Kinshasa stammender Gitarrist, zugleich auch der Lebenspartner von Eva-Maria Bertschy. Seine großartigen, die verschiedenen musikalischen Welten verbindenden Dialoge mit Bühnenpartnerin Carol Schuler und dem Spielbodenchor zählen zu den absoluten Höhepunkten des Abends, der Licht und Schatten bereithält. Carol Schuler, bestens bekannt als Schweizer Tatortkommissarin, ist eine hervorragende Schauspielerin UND Sängerin (!), die eine souveräne Erzählerin abgibt und die schnellen Figurenwechsel mühelos stemmt; an manchen Stellen vielleicht eine Spur ZU routiniert. Herausragend auch das fantastische, so wandelbare Bühnenbild von Ersan Mondtag, der im vergangenen Jahr den Deutschen Pavillon bei der Biennale Venedig gestaltet hat. Die recht trockene Textcollage hingegen lässt doch Wünsche offen, recht wenig Neues ist da zu erfahren, was man nicht ohnehin schon wusste. Offenbar hat die Recherche vor Ort nicht allzu viel ergeben.
weitere Aufführungen: 16../18.1. und 6./10.6., jeweils 19.30 Uhr (Großes Haus)
Theater am Kornmarkt, Bregenz
https://landestheater.org/spielplan/detail/fremde-seelen/