Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Gunnar Landsgesell · 24. Nov 2022 · Film

Zeiten des Umbruchs

Regisseur James Gray erzählt in seiner stark autobiographisch motivierten Geschichte von New York in den 1980er-Jahren und der juvenilen Verstörung über die Welt, wie sie auf die Träume eines weißen und eines schwarzen Jungen reagiert. Beeindruckend.

„Armageddon Time" (so der Originaltitel) beginnt mit zwei Übeltätern. Zumindest aus Sicht des Lehrers Mr. Turkeltaub. Weil der elfjährige Paul (Banks Repeta) während des Unterrichts ein Porträt von ihm gezeichnet hat, stellt ihn der Lehrer bloß. Zu Paul gesellt sich kurz darauf Johnny (Jaylin Webb), ein afro-amerikanischer Junge, der bereits einmal die Klasse wiederholt hat. Aus dem gemeinsamen Schicksal entwickelt sich eine Freundschaft, und Regisseur James Gray schält daraus unmerklich eine äußerst präzise Beobachtung über die Chancengleichheit in den USA, die es vor allem als hohle Versprechung gibt, heraus. Zwar haben beide Jungs nur Flausen im Kopf, doch im Fall von Paul steht eine ehrgeizige jüdische Familie hinter ihm, während Johnny bei seiner demenzkranken Großmutter aufwächst und weder zuhause noch in der Schule das Gefühl vermittelt bekommt, ihm stünden in der Gesellschaft alle Türen offen. Johnny sammelt begeistert Sticker von der NASA, die würde ihn aber höchstens bei der Hintertür reinlassen, gibt ihm ein Angry Young Man in der U-Bahn mit auf den Weg. Doch auch die Träume von Paul, einmal Künstler zu werden, mit Superhelden-Porträts im Stil Kandinskys berühmt zu werden, werden von seinen Eltern (intensiv: Anne Hathaway, harsch: Jeremy Strong) mit Strenge beantwortet. Einzig sein Opa (Anthony Hopkins in einer denkwürdigen Rolle) besitzt jene Mischung aus Autorität und Offenheit, von der sich Paul verstanden fühlt. 

Die schwerste Bürde

Glaubt man James Gray, dann ist „Zeiten des Umbruchs" ein ziemlich autobiographisch gehaltener Film. Die USA Anfang der 1980er-Jahre, im Fernsehen wird Ronald Reagan noch als Gouverneur von Kalifornien interviewt. Seine Reaganomics markierten den Beginn des Neoliberalismus, der die Verhältnisse gerade für Schwarze Kids wie Johnny verschärft hat. Gray kreiert eine erstaunliche Anzahl von Situationen, mit denen er gleichermaßen präzise von den als Fesseln erlebten (familiären) Umständen seiner eigenen Kindheit berichtet und zugleich eine Analyse über den strukturellen und ökonomischen Rassismus liefert, der die Wege der beiden Kinder schließlich in andere Richtungen führt. Auch wenn Gray seine Botschaften zeitweise etwas zu deutlich oder didaktisch formuliert, führt einem der Fortlauf seiner Erzählung und dessen offensichtliche Alternativlosigkeit die Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaft so glasklar vor Augen, wie man das im US-Kino schon länger nicht gesehen hat. Dabei findet sich immer wieder auch Platz für Seitenhiebe. Ein gewisser Fred Trump (!) hält als Financier der Privatschule, in die Paul nun brav mit Schuluniform geht, eine Rede. Und eine gewisse Maryanna Trump (Jessica Chastain in einem forschen Kurzauftritt) erzählt den Schülern, wie sie selbst sich als Frau in dieser Welt durchgesetzt habe. So führt Gray die Frage der Diskriminierung, mit der er bei den Familien von Johnny und Paul ansetzte, zusammen, um am Ende keinen Zweifel zu lassen, wer die schwerste Bürde trägt. Mit Banks Repeta und Jaylin Webb hat Gray zwei Schauspieler gefunden, deren Gesichter perfekt die juvenile Verstörung dieser Verhältnisse ausdrückt. Zwischen Unverständnis und zwecklosem Aufbegehren, aber immer den eigenen Träumen verpflichtet. Zweifellos einer der Filme des Jahres.